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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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zu erkennen glaubte, einen »besonderen Menschen, den es zu erretten galt«. Der Ehrgeiz, »diesen Jungen zu Gott zu führen«, packte ihn. Seine Hoffnung wuchs, als Perry ihm eines Tages eine selbstverfertigte Pastellzeichnung zeigte – ein großformatiges, technisch durchaus passables Porträt von Jesus Christus. Reverend James Post, der protestantische Kaplan der Anstalt, war davon so angetan, dass er es in seinem Dienstzimmer aufhängte, wo es noch heute hängt; ein hübscher Hochglanz-Heiland mit den vollen Lippen und trauernden Augen Willie-Jays. In dem Bild fand Perrys nie ganz ernst gemeinte spirituelle Suche ihren Höhepunkt und ironischerweise auch ihr Ende; er tat seinen Jesus als »scheinheiliges Gekrakel« ab, als einen Versuch, Willie-Jay »einzuwickeln«, da Gott für ihn nach wie vor keine Rolle spielte. Doch sollte er das zugeben und damit riskieren, den einzigen Freund zu verlieren, der ihn je »wirklich verstanden« hatte? (Hod, Joe, Jesse, einsame Wanderer in einer Welt, in der man nur selten Nachnamen austauschte, das waren bislang Perrys »Kumpels« gewesen – und nie jemand wie Willie-Jay, der in Perrys Augen »überdurchschnittlich intelligent« war und »einfühlsam wie ein erfahrener Psychologe«. Wie hatte ein so begabter Mann in Lansing landen können?, fragte Perry sich verwundert. Und obgleich er die Antwort kannte, verwarf er sie als eine »Missachtung des weitaus tiefer gehenden Problems der menschlichen Natur«, während die Sache für schlichtere Gemüter auf der Hand lag: Der Kaplansgehilfe, damals achtunddreißig, war ein Dieb, ein kleiner Räuber, der im Lauf von zwanzig Jahren in fünf verschiedenen Staaten Haftstrafen verbüßt hatte.) Perry beschloss, die Karten offen auf den Tisch zu legen: Es tue ihm leid, aber Himmel, Hölle, Heilige und Gottesgnade seien nichts für ihn, und wenn Willie-Jays Zuneigung sich auf die Hoffnung gründe, eines Tages gemeinsam mit ihm, Perry, vor dem Kreuz niederzuknien, dann sei dies ein bedauerlicher Irrtum und ihre Freundschaft falsch, unaufrichtig, Heuchelei, wie sein Porträt.
    Wie üblich zeigte Willie-Jay Verständnis; enttäuscht, aber keineswegs entmutigt hatte er bis zum Tag von Perrys Entlassung unverdrossen um dessen Seele geworben und ihm am Abend zuvor einen Abschiedsbrief geschrieben, dessen letzter Absatz lautete wie folgt: »Du bist ein Mensch von unbändiger Leidenschaft, ein Hungernder, der nicht recht weiß, wonach es ihn gelüstet, ein Enttäuschter, der verzweifelt sich bemüht, die starren Fesseln der Konvention mittels seiner Individualität zu sprengen. Du lebst in einer Art Niemandsland, gefangen zwischen zwei Extremen, Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung. Du bist stark, doch in Deiner Stärke liegt Schwäche, und wenn Du diese Schwäche nicht zu beherrschen lernst, dann wird sie eines Tages die Oberhand gewinnen und Dich vernichten. Die Schwäche?
    Explosive Gefühlsausbrüche, die in keinerlei Verhältnis zum Anlass stehen. Warum? Warum dieser grenzenlose Zorn beim Anblick anderer, die glücklich und zufrieden sind, diese zunehmende Verachtung gegen Deine Mitmenschen und das Verlangen, ihnen wehzutun? Gut, Du hältst sie für Idioten, Du verabscheust sie wegen ihrer Moral, ihr Glück ist der Grund für Deine Frustration und Deinen Groll. Aber es sind grausame Feinde, die Du in Dir trägst – und sie richten auf Dauer ebenso großen Schaden an wie eine Kugel. Nur dass eine Kugel ihrem Opfer die Gnade eines raschen Todes gewährt. Dieser andere Bazillus hingegen, kann er wachsen und gedeihen, tötet einen Menschen nicht, sondern hinterlässt nichts als das Wrack einer zerrissenen, zerstörten Kreatur; noch lodert in seinem Innersten ein Feuer, genährt aber wird es durch Reisigbündel der Verachtung und des Hasses. Er mag es mit Erfolg zu etwas bringen, doch zum Erfolg bringt er es nicht, denn er ist sein eigener Feind und wird das Erreichte nie wirklich genießen können.«
    Perry, dem es schmeichelte, zum Gegenstand dieses Sermons erkoren worden zu sein, hatte Dick den Brief zu lesen gegeben, und Dick, der Willie-Jay nicht riechen konnte, hatte ihn als »den üblichen Billy-Graham-Quark« abqualifiziert und hinzugesetzt: »Von wegen Reisigbündel! Der Schwuchtel reiß ich den Arsch auf!« Perry hatte mit dieser Reaktion gerechnet und sie insgeheim sogar begrüßt, denn seine Freundschaft mit Dick, den er erst in den letzten Monaten in Lansing näher kennen gelernt hatte, war das gleichsam natürliche Produkt

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