Kaltblütig
Zu den Clutters …«
»Na und? Da hat Bonnie wahrscheinlich wieder mal einen von ihren Anfällen. Was ist mit dem 10 Uhr 32er?«
Mother Truitt gab sich geschlagen; wie üblich wusste Myrt Bescheid, hatte sie das letzte Wort. Da kam ihr ein Gedanke. »Aber Myrt, wenn es nur um Bonnie geht, warum dann zwei Krankenwagen?«
Eine vernünftige Frage, wie Mrs. Clare, die der Logik zwar durchaus zugetan war, diese jedoch auf höchst kuriose Art und Weise interpretierte, eingestehen musste.
Sie werde mal eben Mrs. Helm anrufen, sagte sie. »Mabel weiß bestimmt, was los ist.«
Das Gespräch mit Mrs. Helm dauerte mehrere Minuten und gestaltete sich für Mother Truitt äußerst quälend, da sie bis auf die unverbindlichen, einsilbigen Antworten ihrer Tochter kein Wort mitbekam. Schlimmer noch, als die Tochter schließlich aufgelegt hatte, dachte sie gar nicht daran, die Neugier der alten Frau zu stillen; stattdessen trank sie in Ruhe ihren Kaffee aus, setzte sich an ihren Schreibtisch und fing an, einen Stapel Briefe zu frankieren.
»Myrt«, sagte Mother Truitt. »Um Himmels willen. Was hat Mabel gesagt ?«
»Das wundert mich nicht«, sagte Mrs. Clare. »Wenn man bedenkt, dass Herb Clutter sein Leben lang in Eile war, nie auch nur eine Minute Zeit hatte, um Guten Tag und Danke schön zu sagen, wenn er seine Post abholen kam, und von morgens bis abends durch die Gegend flatterte wie ein kopfloses Huhn – hier einem Verein beitreten, da das große Wort führen und anderen Leuten wichtige Aufträge vor der Nase wegschnappen. Tja – das hat er nun davon. Der hat keine Eile mehr.«
»Aber warum denn, Myrt? Warum denn nicht?«
Mrs. Clare hob die Stimme, »WEIL ER TOT IST. Genau wie Bonnie. Und Nancy. Und der Junge. Jemand hat sie erschossen.«
»Myrt – sag so was nicht. Wer hat sie erschossen?«
Fleißig weiter Briefe frankierend, antwortete Mrs. Clare:
»Der Mann in dem Flugzeug. Den Herb verklagt hat, weil er in seine Obstbäume gekracht ist. Und wenn der’s nicht war, dann vielleicht du. Oder jemand von gegenüber. Die Leute hier sind doch allesamt Lügner und Betrüger.
Gauner und Halunken, die nur auf eine Gelegenheit warten, einem die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Es ist überall auf der Welt dasselbe. Das weißt du doch.«
»Nein«, sagte Mother Truitt und hielt sich die Ohren zu.
»Gar nichts weiß ich.«
»Gauner und Halunken.«
»Ich hab Angst, Myrt.«
»Wovor? Wenn es so weit ist, dann ist es eben so weit.
Da helfen auch keine Tränen.« Sie hatte bemerkt, dass ihre Mutter bereits ein paar vergossen hatte. »Wie Homer gestorben ist, da hab ich alle Angst verbraucht, die ich in mir hatte, und alle Trauer noch dazu. Wenn hier einer frei rumläuft, der mir die Kehle durchschneiden will, dann soll er ruhig. Ist doch gehopst wie gesprungen. Der Ewigkeit ist das egal. Denn merke: Trüge ein Vogel jedes Sandkorn dieser Welt einzeln übers Meer und hätte er sie endlich alle auf der anderen Seite, dann wäre das erst der Beginn der Ewigkeit. Also putz dir gefälligst die Nase.«
Die schreckliche, von der Kanzel herab verkündete, per Telefon verbreitete und von Garden Citys Radiosender KIUL publik gemachte Nachricht (»Vier Mitglieder der Familie Clutter wurden am späten Samstagabend oder frühen Sonntagmorgen Opfer einer schockierenden Tragödie von unfassbaren Ausmaßen. Der Mord, brutal und ohne ersichtliches Motiv …«) rief bei den meisten Empfängern eine Reaktion hervor, die der von Mother Truitt entschieden näher kam als der von Mrs. Clare: an Bestürzung grenzendes Erstaunen; ein oberflächliches Gefühl des Grauens, das sich rasch zu einem dunklen Abgrund kalter Furcht vertiefte.
Hartman’s Café, in dessen Schankraum sich vier grob behauene Tische und ein Tresen drängen, fasste nur ein Bruchteil der verängstigten Klatschmäuler vorwiegend männlichen Geschlechts, die sich dort zusammenfinden wollten. Die Besitzerin Mrs. Bess Hartman, eine spärlich beleibte, unsentimentale Frau mit kurz geschnittenem silberblondem Haar und herrischen, hellgrünen Augen, ist eine Cousine der Postmeisterin Clare, der sie in puncto Unverblümtheit mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ist. »Die meisten hier glauben, ich hätte kein Herz, aber die Clutter-Sache ist mir doch ziemlich an die Nieren gegangen«, erzählte sie später einer Freundin.
»Nicht zu fassen, dass einer so was fertigbringt!
Wie damals alle ankamen und sich die wildesten Geschichten erzählten, da war mein erster
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