Kaltblütig
Schweinezüchter. Kaum war er zu Geld gekommen, wollte er den Ort nach sich benennen. Und wie es dann schließlich so weit war, was macht er da?
Alles verkaufen. Und nach Kalifornien ziehen. Nicht mit uns. Ich bin hier geboren, meine Kinder sind hier geboren. Hier sind wir! Und hier bleiben wir!« Eines ihrer Kinder, Mrs. Myrtle Clare, leitet das Postamt. »Nicht dass Sie jetzt denken, ich wär über sie an diesen Job gekommen. Myrt wollte mich eigentlich gar nicht haben.
Auf einen Job wie diesen muss man nämlich bieten. Wer das niedrigste Gebot macht, kriegt den Zuschlag. Und das bin eben immer ich – so niedrig, dass ’ne Raupe drüberkriechen könnte. Haha! Die Jungs sind fast geplatzt vor Neid. Viele von denen würden wer weiß was geben für den Job, jawoll. Ich weiß allerdings nicht, ob sie viel Freude daran hätten, wenn der Schnee so hoch liegt, wie Primo Camera lang ist, einem der eisige Wind um die Ohren pfeift und die Säcke angesegelt kommen – Argh! Rumms!
In Mother Truitts Branche ist der Sonntag ein ganz normaler Werktag. Während sie am 15. November auf den 10 Uhr 32er nach Westen wartete, sah sie, wie zwei Krankenwagen die Geleise überquerten und zu den Clutters hinausfuhren. Der Vorfall versetzte sie derart in Erstaunen, dass sie etwas tat, was sie noch nie zuvor getan hatte – sie verließ ihren Posten. Sollten die Säcke doch hinfallen, wo sie wollten, von dieser Sache musste Myrt sofort erfahren.
Die Holcomber nennen ihre Post »das Federal Building«, eine reichlich hochtrabende Bezeichnung für einen zugigen, verdreckten Schuppen. Die Decke ist undicht, die Dielen sind lose, die Postfächer schließen nicht, die Glühbirnen streiken, die Uhr steht. »Ja, es ist eine Schande«, räumt die bissige, recht originelle und ausnehmend imposante Dame ein, die über dieses Chaos wacht. »Hauptsache, die Briefmarken kleben. Na ja, was soll’s? Hier hinten bei mir ist’s urgemütlich. Ich sitze in meinem Schaukelstuhl am warmen Ofen, trinke Kaffee und lese, lese, lese.«
Mrs. Clare ist in ganz Finney County wohlbekannt. Ihre Berühmtheit verdankt sie allerdings nicht ihrer derzeitigen Tätigkeit, sondern ihrer früheren Stellung als Wirtin eines Tanzlokals – worauf ihr Äußeres jedoch schwerlich schließen lässt. Sie ist eine hagere, Hosen, Wollhemden und Cowboystiefel tragende, mit stumpfem rötlichblondem Haar und scharfem Temperament gesegnete Frau von unbestimmtem Alter (»was ich wohl weiß, nur euch macht’s heiß«), die ihre umso bestimmteren Ansichten mit einem Organ so schrill und durchdringend wie ein Hahnenschrei herauszukrähen pflegt. Bis 1955 führten sie und ihr verstorbener Mann den Holcomb Dance Pavilion, ein Etablissement, das aufgrund seiner Einzigartigkeit in dieser Gegend aus einem Umkreis von gut hundert Meilen jede Menge trinkfester, tanzwütiger Kundschaft anlockte, deren Benehmen wiederum nicht selten das Interesse des Sheriffs auf sich zog. »Ja, es ging schon manchmal ziemlich wüst zu damals«, erinnerte sich Mrs. Clare. »Diesen krummbeinigen Landeiern brauchte man bloß ein Schlückchen Feuerwasser einflößen, und schon führten sie sich auf wie die Rothäute – wollten alles skalpieren, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Wir haben natürlich nur Mixgetränke ausgeschenkt und keine harten Sachen. Das hätten wir nicht mal gemacht, wenn es erlaubt gewesen war. Mein Mann, Homer Clare, war strikt dagegen; genau wie ich.
Eines Tages sagte Homer Clare – er ist heute auf den Tag genau vor sieben Monaten und zwölf Tagen gestorben, nach einer fünfstündigen Operation drüben in Oregon –, also, da sagte Homer Clare zu mir: ›Myrt, wir haben unser ganzes Leben in der Hölle verbracht, sterben wollen wir im Himmel.‹ Am nächsten Tag haben wir den Laden dichtgemacht. Ich habe das nie bereut. Zugegeben, am Anfang hat mir das Nachtleben gefehlt – der Trubel, die Musik. Aber jetzt, wo Homer nicht mehr ist, bin ich eigentlich ganz froh, dass ich den Job hier im Federal Building habe. Setzen Sie sich doch ’nen Augenblick.
Trinken Sie ’n Tässchen Kaffee.«
Und tatsächlich hatte Mrs. Clare sich an besagtem Sonntagmorgen eben eine frisch gebrühte Tasse Kaffee eingeschenkt, als Mother Truitt hereingestürzt kam.
»Myrt!«, rief sie und musste erst einmal tief Luft holen, bevor sie weitersprechen konnte. »Myrt, gerade sind zwei Krankenwagen zu den Clutters rausgefahren.«
»Was ist mit dem 10 Uhr 32er?«, fragte ihre Tochter.
»Krankenwagen.
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