Kaltblütig
sonntägliche Kirchgang, das Dankgebet vor dem Essen, das Nachtgebet vor dem Zubettgehen – spielten im Leben der Deweys eine wichtige Rolle. »Es ist mir unbegreiflich, wie sich jemand zu Tisch setzen kann, ohne dem lieben Gott für seine Gaben zu danken«, sagte Mrs. Dewey einmal. »Wenn ich abends von der Arbeit komme, bin ich zumeist todmüde. Aber es steht immer frischer Kaffee auf dem Herd, und manchmal liegt sogar ein Steak im Eisschrank. Die Jungs werfen den Grill an, wir unterhalten uns, lassen den Tag Revue passieren, und wenn das Essen schließlich fertig ist, weiß ich, dass wir allen Grund haben, glücklich und dankbar zu sein. Also sage ich: Danke, Herr. Und zwar nicht, weil ich es als meine Pflicht betrachte – sondern weil ich es möchte.«
»Gib mir eine Antwort, Alvin«, sagte Mrs. Dewey jetzt.
»Meinst du, wir können je wieder ein normales Leben führen?«
Er wollte eben etwas erwidern, als ihm das Telefon dazwischenkam.
Der alte Chevrolet verließ Kansas City in der Nacht auf Sonntag, den 22. November. Kisten und Kartons waren mit Seilen auf dem Dach und an den Seiten festgezurrt; der Kofferraum war derart vollgepackt, dass sich der Deckel nicht mehr schließen ließ; und auf dem Rücksitz stapelten sich zwei Fernsehapparate. Den beiden Insassen – Dick, der den Wagen lenkte, und Perry, der die alte Gibson-Gitarre, seinen kostbarsten Besitz, umklammert hielt – blieb nicht viel Platz. Perrys übrige Habseligkeiten – ein Pappkoffer, ein graues Kofferradio der Marke Zenith, eine Vierliterflasche Rootbeer-Sirup (er hatte Angst, dass es sein Lieblingsgetränk in Mexiko nicht gab) sowie zwei große Kartons voller Bücher, Manuskripte und Andenken, die ihm lieb und teuer waren (Dick hatte regelrecht getobt! Er hatte die Kartons laut fluchend mit Fußtritten traktiert und sie »zweieinhalb Zentner Schweinemist« genannt) – machten das Chaos perfekt.
Gegen Mitternacht überquerten sie die Grenze nach Oklahoma. Als sie Kansas hinter sich gelassen hatten, atmete Perry erleichtert auf. Endlich war es so weit: Ihre Reise – eine Reise ohne Rückfahrkarte – hatte begonnen, und Perry konnte das nur recht sein, ließ er doch nichts und niemanden zurück, der sich ernsthaft fragte, wohin er sich verflüchtigt haben mochte. Anders Dick. Er kehrte seiner angeblich so geliebten Familie den Rücken: drei Söhne, Vater, Mutter, Bruder – Menschen, denen er weder seine Pläne anvertraut noch Lebewohl gesagt hatte, obwohl er sie vermutlich niemals wiedersehen würde – zumindest nicht in diesem Leben.
CLUTTER GAB ENGLISH AM SAMSTAG DAS JAWORT: Diese Schlagzeile, die am 23. November auf der Gesellschaftsseite des Garden City Telegram erschien, war für viele Leser eine Überraschung. Wie es schien, hatte Beverly, die Jüngere der beiden hinterbliebenen Clutter-Töchter, ihren Langzeitverlobten, den Biologiestudenten Mr. Vere Edward English, geheiratet. Miss Clutter hatte Weiß getragen, und die feierliche Trauung war, in großem Stil (»mit Mrs. Leonard Cowan als Solistin und Mrs. Howard Blanchard an der Orgel«), »in der First Methodist Church vollzogen« worden – derselben Kirche, in der die Braut drei Tage zuvor um ihre Eltern, ihren Bruder und ihre jüngere Schwester getrauert hatte. Dabei hatten Vere und Beverly laut Telegram »eigentlich erst nach Weihnachten heiraten wollen. Die Einladungen waren gedruckt, und ihr Vater hatte die Kirche zu diesem Termin reserviert. Da aufgrund der unerwarteten Tragödie jedoch viele Verwandte von weit her gekommen waren, beschloss das junge Paar, sich schon am Samstag zu vermählen.«
Nach der Hochzeit zerstreute sich die Familie. Am Montag verließen die letzten Clutters Garden City, und das Telegram brachte auf der Titelseite einen Brief von Mr. Howard Fox aus Oregon, Illinois, einem Bruder Bonnie Clutters. Der Brief, in dem er der Bevölkerung seinen Dank dafür aussprach, den Angehörigen der Opfer ihre »Häuser und Herzen« geöffnet zu haben, schloss mit einem Appell: »Die Bürger (von Garden City) sind aufgebracht«, schrieb Mr. Fox. »Mehr als einmal habe ich gehört, man solle den Mann, wenn er gefunden ist, am nächstbesten Baum aufknüpfen. Wir dürfen uns von derlei Gefühlen nicht leiten lassen. Was geschehen ist, ist geschehen und lässt sich auch nicht ungeschehen machen, indem wir noch ein Menschenleben auslöschen.
Stattdessen sollten wir im Sinne Gottes handeln und Vergebung üben. Wir dürfen keinen Groll in unserem Herzen
Weitere Kostenlose Bücher