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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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dann mit ihren Federbetten zudecken, als wollte er ihnen eine gute Nacht und angenehme Träume wünschen? Oder das Kissen unter Kenyons Kopf. Zuerst dachte ich, sie hätten es ihm untergelegt, damit sie besser zielen konnten. Jetzt denke ich nein, es geschah aus genau demselben Grund, aus dem der Matratzenkarton auf dem Boden ausgebreitet lag – um es dem Opfer bequemer zu machen.«
    Doch so sehr ihn derlei Spekulationen auch gefangen nahmen, sie befriedigten ihn nicht und gaben ihm das Gefühl, »auf der Stelle zu treten«. Mit »kühnen Theorien« kam man in einem solchen Fall nicht weiter; Dewey setzte ganz auf Fakten – »harte, hart erarbeitete« Fakten. Die Vielzahl von Fakten, die es zu ermitteln und zu sichten galt, und der Plan zu ihrer Beschaffung verhießen jede Menge Schweiß und Fleiß, denn es mussten Hunderte von Leuten ausfindig gemacht und »überprüft« werden, darunter alle früheren Angestellten der River Valley Farm, Freunde und Verwandte, sämtliche Geschäftspartner Mr. Clutters, und seien sie noch so unbedeutend – auf der Kriechspur zurück in die Vergangenheit. Denn, so hatte Dewey sein »Team« ermahnt, »wir dürfen nicht eher ruhen, bis wir die Clutters besser kennen, als sie sich selbst kannten. Bis wir zwischen der Tat vom vergangenen Sonntagmorgen und einem Ereignis von vor vielleicht fünf Jahren einen Zusammenhang herstellen können. Eine eindeutige Verbindung. Es muss doch eine geben.«
    Deweys Frau schreckte aus dem Halbschlaf, als sie merkte, wie er aus dem Bett stieg, hörte, wie er ans Telefon ging, und, aus dem benachbarten Zimmer ihrer Söhne, das Schluchzen eines kleinen Jungen an ihr Ohr drang. »Paul?« Normalerweise war Paul ein unbeschwertes, pflegeleichtes Kind – alles andere als eine Heulsuse. Dazu war er viel zu sehr damit beschäftigt, im Garten Tunnel zu graben oder eifrig dafür zu trainieren, »der schnellste Läufer von Finney County« zu werden.
    Doch heute Morgen beim Frühstück war er in Tränen ausgebrochen. Seine Mutter brauchte ihn nicht nach dem Grund zu fragen; sie wusste, dass er sich, auch wenn er die Ursachen nicht recht begriff, von dem Tumult um ihn herum bedroht fühlte – von dem Telefonterror, den Fremden an der Tür und den müden, sorgenvollen Augen seines Vaters. Sie ging Paul trösten. Sein drei Jahre älterer Bruder half ihr dabei. »Paul«, sagte er, »wenn du jetzt ganz tapfer bist, bringe ich dir morgen das Pokerspielen bei.«
    Marie fand Dewey in der Küche, wo er darauf wartete, dass der Kaffee durch die Maschine lief; die Tatortfotos lagen vor ihm auf dem Küchentisch – hässliche Flecken, die das schöne, obstgemusterte Wachstischtuch verschandelten. (Einmal hatte er sie gefragt, ob sie sich die Fotos ansehen wolle. Sie hatte abgelehnt mit den Worten: »Ich möchte Bonnie so in Erinnerung behalten, wie sie war – Bonnie und die anderen.«) »Vielleicht sollten wir die Jungs zu Mutter bringen«, sagte er. Seine verwitwete Mutter wohnte nicht allzu weit entfernt, in einem Haus, das ihr zu groß war und zu still; die Enkelkinder waren stets willkommen. »Nur für ein paar Tage. Bis – na ja, bis …«
     
    »Alvin, meinst du, wir können je wieder ein normales Leben führen?«, fragte Mrs. Dewey.
    Ihr normales Leben sah folgendermaßen aus: Beide arbeiteten, Mrs. Dewey als Sekretärin, und sie teilten sich die Hausarbeit, standen abwechselnd an Spülbecken und Herd. (»Als Alvin noch Sheriff war, haben ihn die Kollegen damit ständig aufgezogen. ›Sieh mal einer an!‹, sagten sie. Wer kommt denn da? Sheriff Dewey! Harter Bursche! Hat die Waffe immer schussbereit! Aber kaum ist er zu Hause, hängt er den Revolver an den Nagel und bindet sich die Schürze um!‹«) Damals sparten sie für das Haus, das Dewey auf einem 1951 erworbenen Stück Land errichten wollte – knapp hundert Hektar, ein paar Meilen nördlich von Garden City. Bei schönem Wetter und besonders an heißen Tagen, wenn der reife Weizen hoch stand, fuhr er gern hinaus und machte Schießübungen – feuerte auf Blechbüchsen und Krähen – oder durchstreifte in seiner Fantasie das Haus, das er eines Tages zu besitzen hoffte, den Garten, den er anlegen wollte, unter Bäumen, die noch nicht gepflanzt waren. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass in dieser schattenlosen Ebene eines Tages eine blühende, von Eichen und Ulmen beschattete Oase entstehen würde: » Eines Tages. So Gott will.«
    Der Glaube an Gott und die dazugehörigen Rituale – der

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