Kaltblütig
keine Ruhe lässt? Ich kann mir das einfach nicht vorstellen – dass man mit so was durchkommt. Das gibt’s doch gar nicht. Dass jemand so ein Ding abzieht wie wir.
Und tatsächlich ungeschoren davonkommt. Das lässt mir einfach keine Ruhe – ich werd das Gefühl nicht los, dass da noch was nachkommt.«
Obwohl er als Kind fleißig zur Kirche gegangen war, hatte Dick nie »auch nur im Entferntesten« an Gott geglaubt, noch hing er irgendeinem Aberglauben an.
Anders als Perry war er mitnichten davon überzeugt, dass ein zerbrochener Spiegel sieben Jahre Unglück bringe oder dass es ein böses Omen sei, wenn man den Neumond durch Glas betrachtet. Und doch hatte Perry, mit seinen nagenden, bohrenden Zweifeln, Dick an einem wunden Punkt erwischt. Denn auch Dick haderte gelegentlich mit dieser Frage: War es möglich – konnten sie »mit der Nummer allen Ernstes durchkommen«?
Plötzlich fuhr er Perry an: »Jetzt halt endlich die Schnauze!« Dann ließ er den Motor aufheulen und setzte den Wagen rückwärts auf die Straße. Vor ihm trottete ein Hund in der warmen Sonne durch den Staub.
Berge. Falken, die am weißen Himmel ihre Kreise zogen.
Als Perry Dick die Frage stellte: »Weißt du, was ich glaube?«, wusste er, dass er ein Thema anschnitt, mit dem er bei Dick auf taube Ohren stieß und das eigentlich auch er lieber vermieden hätte. Dick hatte recht: warum weiter darüber reden? Doch manchmal konnte er einfach nicht anders. In schwachen Momenten überkam ihn die Erinnerung, und er »sah wieder alles« vor sich – den blauen Lichtblitz in einem dunklen Raum, die Glasaugen eines großen Teddybären –, und wenn Stimmen, bestimmte Wörter ihn bestürmten: »O nein! O bitte!
Nein! Nein! Nein! Nein! Nicht!« Von gewissen Geräuschen ganz zu schweigen – ein Silberdollar, der über den Fußboden rollte, Stiefeltritte auf dem nackten Holz der Treppe und Atemgeräusche, das Keuchen, das panische Röcheln eines Mannes mit durchschnittener Luftröhre.
Als Perry sagte: »Ich glaube, mit uns stimmt was nicht«, kam das einem Eingeständnis gleich, das ihm »schwer gegen den Strich« ging. Schließlich war es »bitter«, sich mit dem Gedanken anfreunden zu müssen, dass man womöglich »eine Macke« hatte – insbesondere wenn man an dieser Macke keine Schuld trug, sondern »vielleicht damit zur Welt gekommen war«. Man brauchte sich nur seine Familie anzusehen: ein Trauerspiel! Seine Mutter, Alkoholikerin, war an ihrem eigenen Erbrochenen erstickt. Von ihren Kindern, zwei Jungen und zwei Mädchen, hatte es nur Barbara, die jüngere Tochter, zu einer normalen Existenz gebracht und mit ihrem Mann eine Familie gegründet. Fern, die andere Tochter, war in San Francisco aus einem Hotelfenster gesprungen. (Da er Fern geliebt hatte, redete Perry sich ein, sie sei »nur ausgerutscht«. Sie war »so ein liebenswerter Mensch«, »künstlerisch begabt«, eine »fabelhafte« Tänzerin, und singen konnte sie auch. »Bei ihrem Talent und ihrem Aussehen hätte sie es mit etwas Glück weit bringen können.« Eine traurige Vorstellung, dass sie auf ein Fensterbrett geklettert und vierzehn Stockwerke tief gefallen war.) Und dann war da noch Jimmy, der ältere Sohn – Jimmy, der seine Frau in den Selbstmord getrieben und sich tags darauf das Leben genommen hatte.
Da hörte er, wie Dick sagte: »Da muss ich passen, Baby.
Ich bin normal.« Er hätte am liebsten laut losgewiehert!
Aber was soll’s, lass gut sein. »Nie im Leben«, fuhr Perry fort, »hätte ich gedacht, das ich zu so was fähig war. In tausend Jahren nicht.« Er bereute seinen Fehler sofort, denn Dick konterte natürlich mit der Frage: »Und was war mit dem Nigger?« Dabei hatte er Dick diese Geschichte nur erzählt, weil er Dicks Freund sein, von ihm als genau der »harte, männliche Bursche respektiert« werden wollte, für den er Dick immer gehalten hatte. Und so hatte Perry, als sie sich eines Tages über einen Reader’s-Digest-Artikel mit dem Titel »Sind Sie ein guter Menschenkenner?« unterhielten (»Studieren Sie bei Ihrem nächsten Zahnarztbesuch oder im Bahnhofswartesaal doch einmal das Verhalten Ihrer Mitmenschen, und achten Sie zum Beispiel darauf, wie sie gehen. Ein steifbeiniger Gang deutet auf Strenge und Unbeugsamkeit, ein schlurfender Gang auf einen Mangel an Entschlusskraft hin«), zu Dick gesagt: »Wenn ich nicht so ein hervorragender Menschenkenner war und nicht beurteilen könnte, wem man vertrauen kann, dann wäre ich längst tot. Den
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