Kaltblütig
meisten Menschen kann man nämlich nicht vertrauen. Aber dir vertraue ich, Dick. Und um dir das zu beweisen, begebe ich mich jetzt in deine Hände.
Ich erzähle dir etwas, das ich noch niemandem erzählt habe. Nicht mal Willie-Jay. Die Geschichte von dem Kerl, den ich erledigt hab.« Dicks Interesse war geweckt; er lauschte gespannt. »Es war vor ein paar Jahren, im Sommer«, begann Perry. »Ich wohnte damals in einer alten Pension in Vegas, einem ehemaligen Luxuspuff. Von wegen Luxus. Eigentlich hätte die Bude längst abgerissen gehört; jetzt fiel sie langsam, aber sicher von selbst zusammen. Die billigsten Zimmer waren unterm Dach, und da oben wohnte ich. Zusammen mit einem Nigger. Er hieß King und war auf der Durchreise. Wir hausten ganz allein da oben – zusammen mit einer Million cucarachas.
King war nicht mehr der Jüngste, aber er hatte beim Straßenbau und auch sonst viel im Freien gearbeitet – ein kräftiger Bursche. Er trug eine Brille und las viel. Seine Tür stand immer offen. Und jedes Mal, wenn ich daran vorbeikam, lag er splitternackt auf seinem Bett. Er war arbeitslos, hatte aber angeblich ein paar Dollar auf der hohen Kante, und jetzt lag er von morgens bis abends da, las, fächelte sich Luft zu und trank Bier. Er las nur Dreck – Comics und Cowboydreck. Er war in Ordnung. Manchmal tranken wir ein Bier zusammen, und einmal lieh er mir zehn Dollar. Ich hatte keinen Grund, ihm was zu tun.
Aber eines Abends, wir saßen unterm Dach, und es war so heiß, dass man nicht schlafen konnte, da sagte ich:
›Komm, King, wir machen eine kleine Spritztour.‹ Ich hatte einen alten Wagen, den ich auseinandergenommen, aufgemotzt und silber lackiert hatte – ich nannte ihn den Silver Ghost. Wir fuhren eine Weile vor uns hin.
Weit raus in die Wüste. Da draußen war es kühl. Wir hielten an und tranken noch ein paar Bier. King stieg aus, und ich ging ihm hinterher. Er wusste nicht, dass ich die Kette mitgenommen hatte. Die Fahrradkette unterm Vordersitz. Es kam für mich genauso überraschend wie für ihn. Ich schlug ihm ins Gesicht. Seine Brille ging zu Bruch. Ich schlug immer wieder zu. Danach war ich wie betäubt. Ich ließ ihn da liegen und fuhr zurück. Ich hab nie wieder von der Sache gehört. Vermutlich hat ihn nie jemand gefunden. Nur die Geier.«
An der Geschichte war durchaus etwas Wahres dran.
Perry hatte, unter den geschilderten Umständen, tatsächlich einmal einen Neger namens King kennen gelernt.
Aber wenn der Mann inzwischen tot war, so hatte Perry damit nichts zu tun; er hatte ihm nie auch nur ein Haar gekrümmt. King lag wahrscheinlich heute noch auf irgendeinem Bett, fächelte sich Luft zu und trank Bier.
»Oder hast du ihn am Ende gar nicht umgebracht?«, fragte Dick.
Perry war weder ein begnadeter noch ein besonders origineller Lügner; aber wenn er eine Geschichte einmal erzählt hatte, blieb er bei dieser Version. »Doch, klar.
Nur – ein Nigger. Das kann man nicht vergleichen«, sagte Perry und setzte hinzu: »Aber weißt du, was mir bei der Sache keine Ruhe lässt? Ich kann mir das einfach nicht vorstellen – dass man mit so was durchkommt.« Und er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Dick genauso ging. Denn Perrys mystischmoralische Bedenken hatten ihre Wirkung keineswegs verfehlt. Darum:
»Jetzt halt endlich die Schnauze!«
Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Knapp dreißig Meter weiter trottete ein Hund am Straßenrand entlang. Dick hielt auf ihn zu. Es war ein alter, halbtoter Mischlingsköter, ein räudiges, klapperdürres Vieh, und als der Wagen ihn erwischte, war der Aufprall kaum heftiger als bei einem Vogel. Dennoch war Dick zufrieden. »Junge, Junge!«, sagte er – wie immer, wenn er einen Hund überfahren hatte, und dazu nutzte er jede sich bietende Gelegenheit. »Junge, Junge! Der ist platt!«
Thanksgiving war vorbei, und auch die Fasanensaison ging zu Ende, nicht aber der herrliche Altweibersommer mit seinen hellen, klaren Tagen. Die letzten überregionalen Journalisten verließen Garden City, in der Gewissheit, dass der Fall wohl nie geklärt werden würde. Für die Bewohner von Finney County aber war der Fall keineswegs abgeschlossen, schon gar nicht für die Gäste von Holcombs beliebtestem Treffpunkt, Hartmans Café.
»Seit dieser Sache können wir uns vor Arbeit kaum noch retten«, sagte Mrs. Hartman und ließ den Blick durch ihr gemütliches kleines Reich schweifen, wo sich tabakschmauchende, kaffeetrinkende Farmer,
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