Kalte Fluten
sein. Denn wem erzählte man sonst von Problemen mit dem Partner? Außerdem würde Daniel bald wieder auf großer Fahrt über die Weltmeere reisen.
»Wolfgang ist in ganz großen Schwierigkeiten«, sagte Thomas. »Der Typ, der seine Tochter auf dem Gewissen hat, ist damals nicht untergetaucht, wie wir vermuteten, sondern wurde lebendig begraben.«
»Wirklich?«
»Ja, und daran ist er gestorben.«
»Er hat es verdient«, sagte Daniel mit einer unüberhörbaren Genugtuung in der Stimme.
»Daniel. Kein Mensch hat den Tod verdient.«
»Doch. Denk an Mama und Papa. Die hatten den Tod ganz sicher verdient.«
Thomas sah ein, dass eine Diskussion über diese Frage angesichts ihrer gemeinsamen Erfahrungen sinnlos war.
»Jedenfalls ist die Leiche vor Kurzem gefunden worden, und da Wolfgang wegen Lydia ein Motiv hat, ist er verdächtig und deshalb vom Dienst suspendiert.«
»Wie lange?«
»Vermutlich bis zu dem Tag, an dem man den wahren Täter gefunden hat.«
»Du glaubst also nicht, dass er seine Tochter gerächt hat?«
»Daniel, jetzt verlangst du wirklich viel von mir. So weit bin ich noch nicht.«
»Wie lange willst du denn noch warten?«
»Wie meinst du das?«
»Nun, du als Psychiater hast doch Mittel und Wege …«
»Sicher hätte ich die. Aber die sind illegal.«
»Das kann ich als einfacher Seemann nicht beurteilen. Aber wenn er es war, muss es ans Tageslicht.«
»Da hast du recht.«
»Ich weiß. Und nur deine Skrupel verhindern, dass er endlich Fortschritte macht.«
»Lass mich darüber nachdenken, Daniel.«
»In Ordnung.«
Nun war es Zeit, den Südkurs durch eine scharfe Kurve Richtung Westen zu korrigieren. Die Bavaria-Jacht gehorchte perfekt. Der Schiffsdieselmotor trieb das Boot exakt neunzig Grad magnetisch West.
Als die Arbeit am Steuerrad erledigt war, traute sich Daniel wieder zu reden. »Liegt sonst noch was an, Bruderherz? Du weißt, wir lichten demnächst wieder Anker. Dann kannst du – außer übers Telefon – wieder lange Zeit nicht mit mir reden.
»Ja«, gab Thomas zu. »Da ist noch was.«
»Was denn?«
»Wiebke und Wolfgang sind bekanntlich Polizisten. Die Fälle, die sie in der Mordkommission zu bearbeiten haben, gehen mir manchmal ziemlich an die Nieren.«
»Nun erleichtere doch endlich deine Seele. Worum geht es?«
»Wolfgang hat es mir erzählt. Wie üblich im totalen Suff. Beide, also Wiebke und Wolfgang, hatten vor der ganzen Geschichte mit Lydia einen schlimmen Fall. Sie mussten zu einem toten Kind. Keine elf Jahre alt. Die Eltern haben das arme Gör über Jahre eingepfercht, geschlagen und gequält. Es musste angekettet in seinen Exkrementen sitzen wie ein Stück Vieh. Selbst eine Henne in einer Legebatterie wäre sich des Zuspruchs aller Weltverbesserer sicher gewesen. Nicht jedoch dieses Mädchen. Niemand hat sich für sie interessiert. Und es kommt noch schlimmer. Der Vater hat – so die Vermutung der Polizei – den Lichtschalter im Kinderzimmer manipuliert. Wenn die Kleine ihn angefasst hätte, hätte sie einen tödlichen Stromschlag erlitten.«
»Wieso hätte? Ich denke, das Kind ist tot.«
»Ja, aber sie ist ganz profan verhungert.«
»Niemand hat geholfen?«, fragte Daniel sichtlich betroffen.
»Natürlich hat es Hinweise gegeben«, sagte Thomas. »Aber weder das Jugendamt noch das Vormundschaftsgericht und weiß der Geier wer sonst noch davon gehört hatte, haben die Warnsignale der Nachbarn ernst genug genommen. Schließlich ist das arme Kind jämmerlich verreckt. Weißt du, was sie in ihrem Magen fanden, als sie die Kleine obduzierten?«
»Nein, woher denn?«
»Ihre eigenen Haare«, sagte Thomas voller Abscheu. »Sie hat ihre eigenen Haare gegessen. So sehr hat sie gehungert.«
»Und was passiert jetzt mit den Erzeugern?« Daniel vermied bewusst den Begriff »Eltern«. Solche Menschen hatten ihre Kinder nur gezeugt. Eltern waren sie damit noch lange nicht.
»Das ist es ja, was Wolfgang bis heute so aufregt. Die Mutter gab dem Vater die Schuld. Der Vater sagte, dass die Mutter völlig desinteressiert an ihrem Kind war. Schwere Beweislage. Nicht einmal Haftbefehle sind erlassen worden. Wolfgang wurde fast wahnsinnig, als er mir das erzählte. Er und Wiebke haben den Fall dem Staatsanwalt übergeben, der hat Anklage erhoben, und der Prozess begann. So ein schmieriger Anwalt hat es dann so hingebogen, dass die beiden mit zwei Jahren auf Bewährung davonkamen. Du glaubst es nicht. Da laufen jetzt zwei Menschen frei herum, die ihr eigenes Kind
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