Kalte Fluten
inmitten des Überflusses an Lebensmitteln haben verhungern lassen.«
»Den Vater würde ich an vier Pferde binden«, sagte Daniel versonnen. »Je eins an die Arme und die Beine. Dann würde ich laut ›Hü‹ rufen und mich daran ergötzen, wie sein Körper in Einzelteile zerrissen wird. Und die Mutter –«
»Daniel«, rief Thomas angewidert. »Hör auf! Manchmal verstehe ich Wiebke, dass sie sich standhaft weigert, mit dir zusammenzutreffen. Deine Phantasie ist ja furchterregend!« Thomas beschlichen leise Zweifel, ob es wirklich richtig war, Daniel solche Dinge zu erzählen.
»Es ist doch nur Phantasie, Bruderherz.«
»Gott sei Dank!«
»Und das verleitet deinen Wolfgang zum Saufen?«
»Unter anderem«, sagte Thomas gedehnt.
»Ich verstehe ihn. Ich weiß schon, warum ich mich auf die christliche Seefahrt konzentriert habe. Keine Menschen. Kein Unglück.«
»Manchmal beneide ich dich, Daniel.«
»Ich weiß, Thomas. Ich weiß.«
Sie lagen wieder quer zum Rostocker Hafen. Thomas leitete das Anlegemanöver ein.
»Thomas?«
»Ja, Daniel?«
»Kann ich ein paar Tage im Bootshaus bleiben?«
»Was für eine Frage, natürlich!«
»Seit du Wiebke hast, die mich ablehnt, wie du sagst, ist das alles andere als selbstverständlich.«
»Blut ist dicker als Wasser. Denk immer daran, Brüderchen.«
Sie legten an. Daniel ging mit der Gewissheit von Bord, dass sein Bruder zu ihm stand. Thomas tat es gut, jemanden zu haben, dem er jederzeit sein Herz ausschütten durfte.
***
Seit Tagen ärgerte er sich. Er, Johannes Kleinert, hatte hunderttausend Euro in bar in einen Mülleimer an der Plauer Straße gesteckt und war einfach gegangen. Weil ein kleiner Staatsanwalt das so wollte. Hatte er den Verstand verloren?
Wer wusste denn, ob sich Günter das Geld nicht einfach unter den Nagel reißen würde? Quittungen oder Zeugen hatte er nicht. Doch dann beruhigte er sich: Die Summe war zwar beträchtlich, aber dann doch wieder zu wenig, um sich damit irgendwo auf der Welt eine neue Existenz aufbauen zu können.
Außerdem müsste man dazu, wie er selbst, über ein paar schwarze Konten verfügen. Die hatte Günter sicher nicht. Womit hätte er sie denn auch füllen sollen?
Es war Mittwoch, sieben Uhr dreißig. Wie jeden Morgen um diese Zeit fuhr Kleinert zu seinem Güstrower Büro. Auch wenn in wenigen Tagen sein Immobilienimperium implodieren würde, musste er bis dahin die Show aufrechterhalten. Schon allein, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.
Er fuhr die Hageböcker Straße hinauf in Richtung Markt und öffnete per Funk bereits das Tor, hinter dem sein Privatparkplatz war. Ihm fielen die verdächtig vielen Fahrzeuge auf, die trotz des Parkverbots am Straßenrand standen. Die typischen Mittelklassefahrzeuge in unauffälliger Lackierung, die von der Zivilpolizei gefahren wurden. Außerdem ein paar Einsatzwagen. Und ein Transporter, der da eigentlich nicht hingehörte.
Gut, dachte er, jetzt nur nicht nervös werden.
Er ging die Treppe zu den Büros hinauf. Früher hatte er im Erdgeschoss ein Maklerbüro betrieben. Aber als Bauträger war er auf Publikumsverkehr nicht mehr angewiesen, und deswegen hatte er das Ladenlokal an ein Reisebüro vermietet.
Völlig aufgelöst versuchte Carmen Kohl, Kleinerts persönliche Assistentin, die wegen der zufälligen Namensgleichheit mit dem ehemaligen Regierungschef bis heute in der Firma »Kanzlerin« genannt wurde, den Trupp der offensichtlich tatendurstigen Beamten aufzuhalten.
»Dazu haben Sie kein Recht«, fauchte sie die verantwortliche Polizistin an.
»Doch, das habe ich«, sagte diese ruhig. »Hier sehen Sie den Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Rostock vom gestrigen Tage. Wegen des Verdachts der Insolvenzverschleppung, des Betruges und weiterer Straftaten wird die Durchsuchung der Geschäftsräume der ›JKM Immobilienholding GmbH & Co KG‹, deren Tochtergesellschaften, namentlich die ›JKM Investment GmbH‹, ›JKM Immobilienplanung GmbH‹, ›JKM ImmobilienConsult GmbH‹ und so weiter, sowie der Privaträume des Johannes Kleinert, wohnhaft … wissen Sie was, gute Frau: Lesen Sie’s doch selbst!«
Zitternd nahm Carmen Kohl den grauen Recyclingpapierbescheid in die Hand. Sie war sichtlich erleichtert, als sie ihren Chef bemerkte.
»Jo«, sagte sie atemlos. »Die wollen hier alles auf den Kopf stellen. Was ist denn eigentlich los?«
»Das wird sich alles klären, Carmen.« Mit jahrelang trainierter Leutseligkeit klopfte er ihr auf die Schulter.
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