Kalte Herzen
Zeit schwebte. Sie hätte sich fast an Katzka festgehalten. Wie bin ich bloß mit diesem Mann auf diesem Pier gelandet? fragte sie sich.
Welche seltsame Verkettung der Ereignisse hat mich an diesen unerwarteten Punkt in meinem Leben geführt?
Katzka berührte ihren Arm, sein Griff war warm und fest. »Ich werde mich mal an Bord umsehen.« Er trat auf den Landungssteg. Nach wenigen Schritten blieb er stehen und schaute sich um.
Zwei Scheinwerfer waren durch das Tor gekommen, ein Wagen rollte über den Containerhof auf sie zu. Es war ein Van.
Abby hatte keine Chance mehr, sich hinter den Kisten zu verstecken, die Scheinwerfer hatten sie bereits erfaßt.
Der Van bremste. Abby schirmte mit der Hand ihre Augen ab, konnte aber praktisch nichts erkennen. Sie hörte, wie eine Tür geöffnet und wieder zugeschlagen wurde, und knirschende Schritte auf dem Schotter, als die Männer ihr den Fluchtweg versperrten.
Neben ihr tauchte Katzka auf. Sie hatte ihn nicht von dem Landungssteg kommen hören, doch unvermittelt stand er neben ihr und trat zwischen sie und den Van. »Weichen Sie einfach zurück«, forderte er. »Wir wollen keinen Ärger.«
Die Umrisse der beiden Männer im Scheinwerferlicht zögerten nur kurz. Dann kamen sie näher.
»Lassen Sie uns vorbei!« verlangte Katzka.
Abbys Sicht war durch Katzkas Rücken teilweise verdeckt, so daß sie nicht sah, was als nächstes geschah. Sie bemerkte nur, daß er sie plötzlich in die Hocke zog, während sie gleichzeitig Schüsse hörte, die auf dem Beton hinter ihr einschlugen.
Katzka und sie tauchten gleichzeitig hinter den Kisten in Deckung. Er drückte ihren Kopf zu Boden, als weitere Schüsse fielen und Holzsplitter aus den Kisten rissen.
Katzka erwiderte das Feuer in drei kurzen Stößen.
Man hörte sich eilig entfernende Schritte und einen angespannten Wortwechsel.
Dann heulte der Motor des Vans auf, und die Reifen wirbelten Schotter auf.
Abby hob den Kopf und sah zu ihrem Entsetzen, daß der Van wie eine Dampfwalze auf die Kisten zuhielt.
Katzka zielte und schoß. Vier Einschläge ließen die Windschutzscheibe klirren.
Der Wagen schlingerte über den Pier wie ein außer Kontrolle geratener Rammbock.
Katzka feuerte zwei letzte verzweifelte Schüsse ab.
Der Van kam weiter auf sie zu.
Das letzte, was Abby sah, bevor sie sich vom Pier in die Dunkelheit stürzte, waren die grellen Scheinwerfer.
Das Eintauchen in das eisige Wasser war ein Schock. Prustend kam sie wieder an die Oberfläche, an Salzwasser und ausgelaufenem Dieselöl würgend, während sie mit Armen und Beinen im kalten Wasser ruderte. Auf dem Pier schrien Männer, dann gab es ein gewaltiges Platschen. Das Wasser wurde aufgewirbelt und schwappte über sie hinweg. Hustend tauchte sie wieder auf. Am Ende des Piers schien das Wasser grün zu phosphoreszieren. Die Scheinwerfer des Vans warfen zwei Lichtkegel in das Hafenbecken. Als der Wagen unterging, verblaßte der grünliche Schimmer wieder zu einem tiefen Schwarz.
Katzka. Wo war Katzka?
Sie drehte sich im Wasser herum und spähte in die Dunkelheit.
Die Oberfläche war noch immer aufgewühlt, kleine Wellen schwappten ihr ins Gesicht, und das Salz brannte in ihren Augen.
Sie hörte ein leises Platschen, und ein paar Meter entfernt tauchte ein Kopf aus dem Wasser. Katzka blickte in ihre Richtung und sah, daß sie sich aus eigener Kraft über Wasser hielt.
Er blickte auf, als weitere Stimmen ertönten. Kamen sie vom Schiff? Es waren zwei oder drei Männer, deren Schritte man auf dem Pier vernahm. Sie riefen sich etwas zu, doch ihre Rufe klangen wirr und unverständlich.
Kein Englisch, dachte Abby, ohne die Sprache identifizieren zu können.
Dann tauchte ein Licht auf, der Strahl brach durch den Nebel und glitt langsam über die Wasseroberfläche.
Katzka tauchte unter. Genau wie Abby. Sie schwamm, so weit ihr Atem sie trug, weg von dem Pier, hinaus in das schwarze, offene Wasser. Wieder und wieder tauchte sie auf, schnappte nach Luft und tauchte wieder unter. Als sie zum fünften Mal wieder an die Oberfläche kam, herrschte totale Finsternis.
Auf dem Pier konnte man jetzt zwei Lichter erkennen, die den Nebel absuchten wie zwei unbarmherzige Augen. Sie hörte ein platschen in der Nähe, gefolgt von dem Geräusch hastigen Atmens, und wußte, daß Katzka aufgetaucht war.
»Ich habe meine Waffe verloren«, keuchte er.
»Was ist eigentlich los?«
»Schwimmen Sie einfach weiter, zum nächsten Pier.«
Plötzlich erstrahlte die Nacht in grellem
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