Kalte Herzen
gut«, erklärte Archer. »Alle diese Menschen werden sich bestens um sie kümmern. Und wir sind nur auf dem Flur. Ich muß mit Ihnen sprechen. Sofort.«
Schließlich nickte Victor, legte Ninas Hand behutsam auf das Bett und folgte Archer nach draußen.
In einer ruhigen Ecke der Intensivstation blieben sie stehen.
Die Lichter waren für den Abend heruntergedreht worden, vor der Reihe von grünen Bildschirmen sah man die Umrisse der für die Kontrolle der Monitore zuständigen Schwester, die still und reglos im Halbdunkel saß.
»Die Transplantation ist verschoben worden«, sagte Archer.
»Es hat Probleme bei der Entnahme gegeben.«
»Was soll das heißen?«
»Sie konnte heute abend nicht stattfinden. Wir müssen sie für morgen neu ansetzen.«
Victor blickte zum Zimmer seiner Frau. Durch das Fenster sah er, daß sie ihren Kopf bewegte. Sie wachte auf. Sie brauchte ihn an ihrer Seite.
»Morgen abend darf aber nichts schiefgehen«, sagte er.
»Das wird es auch nicht.«
»Das haben Sie mir nach der ersten Transplantation auch versprochen.«
»Transplantatabstoßung ist etwas, was sich nicht immer verhindern läßt. Egal wie sehr man sich auch bemüht, es kommt vor.«
»Woher weiß ich, daß es nicht noch mal passiert? Mit einem zweiten Herz?«
»Versprechen kann ich gar nichts. Aber zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Alternative. Das Cyclosporin hat versagt. Und auf OKT-3 hat sie anaphylaktisch reagiert. Das einzige, was uns übrigbleibt, ist eine weitere Transplantation.«
»Und sie wird morgen tatsächlich stattfinden?«
Archer nickte. »Wir werden dafür sorgen, daß es morgen passiert.«
Nina war noch nicht wieder ganz bei Bewußtsein, als Victor an ihr Bett zurückkehrte. Er hatte ihr schon so oft beim Schlafen zugesehen, hatte im Laufe der Jahre die Veränderungen in ihrem Gesicht registriert, die zarten Falten, die sich um die Mundwinkel gebildet hatten, das allmähliche Absacken des Kinns, den neuen Hauch von Weiß in ihrem Haar. Er hatte jede einzelne Veränderung betrauert, weil sie ihn daran erinnerte, daß ihre gemeinsame Wegstrecke nur ein kleines Stück der Reise durch die kalte und einsame Ewigkeit war.
Und trotzdem hatte er jede einzelne Veränderung geliebt, weil es ihr Gesicht war.
Stunden später schlug sie die Augen auf. Zuerst bemerkte er nicht, daß sie wach war. Er saß mit vor Erschöpfung herabhängenden Schultern auf einem Stuhl neben dem Bett, als irgend etwas ihn aufblicken ließ.
Sie sah ihn an und öffnete in der stummen Bitte um seine Berührung die Hand. Er ergriff sie und küßte sie.
»Alles wird gut werden«, flüsterte sie.
Er lächelte. »Ja, natürlich wird es das.«
»Ich habe Glück gehabt, Victor. So viel Glück.«
»Das hatten wir beide.«
»Aber jetzt mußt du lernen, mich loszulassen.«
Victors Lächeln erstarb. Er schüttelte den Kopf. »Sag so etwas nicht.«
»Du hast noch so viel vor dir.«
»Und was ist mit uns?« Er hielt ihre Hand jetzt mit beiden Händen gepackt wie ein Mann, der davonfließendes Wasser festhalten will. »Du und ich, Nina, wir sind nicht wie alle anderen! Das haben wir doch immer zueinander gesagt. Weißt du nicht mehr? Wir waren anders. Wir waren etwas Besonderes.
Und nichts würde uns je geschehen?«
»Aber es ist etwas geschehen«, murmelte sie. »Etwas ist mit mir geschehen.«
»Und ich werde mich darum kümmern.«
Sie sagte nichts, sondern schüttelte nur traurig den Kopf.
Victor war, als hätte er in Ninas Augen, kurz bevor sie sie schloß, als letztes einen Ausdruck stillen Trotzes gesehen. Er blickte auf ihre Hand, die er so besitzergreifend gehalten hatte, und sah, daß sie sie zur Faust geballt hatte.
Es war fast Mitternacht, als Detective Lundquist eine völlig erschöpfte Abby vor ihrer Haustür absetzte. Marks Wagen stand nicht in der Auffahrt. Als Abby das Haus betrat, konnte sie die Leere so deutlich spüren wie einen Abgrund vor ihren Füßen.
Er hat einen Notfall im Krankenhaus, dachte sie. Es war nicht ungewöhnlich, daß er das Haus spätabends verließ und zum Bayside fuhr, um sich um eine Schuß- oder Stichwunde zu kümmern. Sie versuchte, sich ihn vorzustellen, wie sie ihn so oft im OP gesehen hatte, sein Gesicht von einer blauen Maske bedeckt, sein Blick nach unten gerichtet, doch es wollte ihr nicht gelingen. Es war, als ob ihr Gedächtnis und ihre alte Realität ausradiert waren.
Sie ging zum Anrufbeantworter in der Hoffnung, daß er eine Nachricht auf dem Band hinterlassen hatte. Doch es
Weitere Kostenlose Bücher