Kalte Herzen
sie hatte jetzt keine Wahl mehr. »Ihr alle? Seid ihr alle in die Sache verwickelt?«
»Jetzt nicht mehr.« Die Verbindung wurde für einen Moment schwächer, und sie hörte etwas, was sie für Verkehrsrauschen hielt. Dann wurde seine Stimme wieder lauter. »Mohandas und ich haben heute abend eine Entscheidung getroffen. Bei ihm war ich auch den ganzen Abend. Wir haben geredet und unsere Einschätzungen miteinander verglichen. Abby, wir legen unseren Kopf auf den Richtblock, aber wir haben beschlossen, daß es an der Zeit ist, diese Sache zu beenden. Wir können es nicht mehr länger mitmachen. Mohandas und ich werden die Sache ans Licht bringen. Vergiß das Bayside.« Er hielt inne, und seine Stimme brach. »Ich war ein Feigling. Es tut mir leid.«
Sie schloß die Augen. »Du wußtest es. Du wußtest es die ganze Zeit.«
»Ich wußte einiges, aber nicht alles. Ich hatte keine Ahnung, wie weit Archer die Sache getrieben hat. Ich wollte es nicht wissen. Dann hast du angefangen, all diese Fragen zu stellen, und ich konnte die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen.« Er atmete tief aus und flüsterte: »Das wird mich ruinieren, Abby.«
Sie hatte noch immer die Augen geschlossen. Abby konnte ihn vor sich sehen, im Dunkel seines Wagens, eine Hand am Steuer, während er mit der anderen das Handy hielt. Sie konnte sich das Elend in seinem Gesicht vorstellen. Und den Mut, vor allem den Mut.
»Ich liebe dich«, flüsterte er.
»Komm nach Hause, Mark. Bitte!«
»Noch nicht. Ich treffe mich mit Mohandas im Krankenhaus.
Wir werden uns die Spenderunterlagen besorgen.«
»Wißt ihr denn, wo sie aufbewahrt werden?«
»Wir haben zumindest eine Ahnung. Zu zweit würden wir eine Weile brauchen, alle Akten durchzugehen. Wenn du uns hilfst, können wir es vielleicht bis zum Morgen schaffen.«
Sie richtete sich im Bett auf. »Heute nacht würde ich wohl sowieso nicht viel Schlaf finden. Wo triffst du dich mit Mohandas?«
»Im Archiv. Er hat den Schlüssel.« Mark zögerte. »Bist du sicher, daß du mitmachen willst, Abby?«
»Ich will sein, wo immer du bist. Wir werden es gemeinsam tun. Ja!«
»Ja«, sagte er leise. »Bis gleich.«
Fünf Minuten später verließ Abby das Haus und stieg in ihren Wagen.
Die Straßen von West Cambridge waren verlassen. Sie bog auf den Memorial Drive, streifte den Charles River und fuhr in südöstlicher Richtung zur River Street Bridge. Es war Viertel nach drei, aber sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zum letzten Mal so wach gefühlt hatte. So lebendig.
Endlich werden wir sie schlagen!
dachte sie. Und wir werden es gemeinsam tun. So wie es von Anfang an hätte sein sollen.
Sie überquerte die Brücke und nahm die Auffahrt zur Mautstraße. Um diese Zeit waren nur wenig Fahrzeuge unterwegs, und sie fädelte sich glatt in den spärlich gen Osten fließenden Verkehr ein.
Dreieinhalb Meilen weiter endete die Mautstraße. Sie wechselte die Spur, um die Auffahrt zum South Expressway nicht zu verpassen. Als sie abbog, bemerkte sie zwei Scheinwerfer, die direkt hinter ihr klebten.
Sie beschleunigte und fuhr auf den Expressway nach Süden.
Die Scheinwerfer kamen wieder näher und blendeten sie im Rückspiegel. Wie lange waren sie schon hinter ihr? Sie hatte keine Ahnung. Aber sie schossen heran wie Fledermauszwillinge aus der Hölle.
Sie trat aufs Gas. Ihre Verfolger auch. Plötzlich schoß der Wagen in die linke Spur und schloß zu ihr auf, bis sie direkt nebeneinander fuhren.
Sie blickte zur Seite und sah, wie das Fenster des anderen Wagens heruntergekurbelt und die Silhouette eines Mannes auf dem Beifahrersitz sichtbar wurde.
Panisch trat sie das Gaspedal durch.
Das Fahrzeug vor sich sah sie zu spät. Sie stieg in die Bremsen.
Ihr Wagen geriet ins Schleudern und prallte von der Betonbegrenzung ab. Die Welt taumelte zur Seite, dann drehte sich alles wieder und wieder. Sie sah Dunkelheit und Licht.
Dunkelheit, Licht.
Dunkelheit.
»… wiederhole, hier ist Wagen einundvierzig. Geschätzte Ankunftszeit in etwa fünf Minuten. Verstanden?«
»Verstanden, Einundvierzig. Lebenszeichen?«
»Herzfrequenz bei fünfundneunzig, Puls einhundertzehn. Wir haben einen Katheter gelegt und geben normale Salzlösung.
Sieht so aus, als würde sie gerade anfangen, sich zu bewegen.«
»Stellt sie ruhig.«
»Wir haben eine Halsmanschette angelegt und sie auf die Vakuummatratze gelegt.«
»Gut. Wir erwarten euch.«
»Bis gleich, Bayside.«
Licht. Und Schmerzen. Kurze, stechende
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