Kalte Herzen
hatte sie kaum Zeit, über Joe Terrios Klage zu grübeln. In den gelegentlichen Einsatzpausen war sie den Tränen allerdings jedesmal gefährlich nahe. Von allen trauernden Ehegatten, die sie getröstet hatte, hätte sie Joe Terrio als letztem zugetraut, daß er sie verklagen könnte. Was habe ich falsch gemacht? fragte sie sich. Hätte ich mitfühlender sein können? Einfühlsamer? Joe, was wolltest du noch von mir? Was immer es war, sie wußte, daß sie nicht mehr hätte geben können.
Sie hatte ihr Bestes getan. Und für all ihren Kummer um Karen Terrio wurde sie mit einem Schlag ins Gesicht belohnt.
Sie war jetzt wütend, auf die Anwälte, auf Victor Voss und sogar auf Joe. Joe Terrio tat ihr leid, doch sie fühlte sich auch von ihm verraten. Ausgerechnet von dem Mann, dessen Leid sie so intensiv geteilt hatte.
Um zehn Uhr hatte sie schließlich Ruhe, sich in den Bereitschaftsraum zurückzuziehen. Sie war zu erregt, um Zeitschriften zu lesen, und zu deprimiert, um mit jemandem reden zu wollen, nicht einmal mit Mark. Also legte sie sich auf das Bett und starrte an die Decke. Ihre Beine fühlten sich wie gelähmt an, ihr ganzer Körper war reglos. Wie soll ich diese Nacht überstehen, wenn ich mich nicht einmal aufraffen kann, mich von diesem Bett zu erheben? dachte sie.
Als um halb elf das Telefon klingelte, bewegte sie sich doch.
Sie richtete sich auf und nahm den Hörer ab: »Dr. DiMatteo.«
»Hier ist der OP. Die Doktoren Archer und Hodell brauchen Sie hier oben.«
»Sofort?«
»So schnell wie möglich. Sie warten auf eine OP.«
»Ich bin gleich da.« Abby legte auf und fuhr sich seufzend mit beiden Händen durch das Haar. An jedem anderen Abend wäre sie schon auf den Beinen und könnte es kaum erwarten, sich reinzuwaschen. Doch heute konnte sie den Gedanken, Archer und Mark an einem OP-Tisch gegenüberzustehen, kaum ertragen.
Du bist Chirurgin, DiMatteo. Also benimm dich auch so!
ermahnte sie sich.
Ihre Abscheu vor Selbstmitleid trieb sie schließlich auf die Beine und aus dem Bereitschaftsraum.
Sie fand Mark und Archer im OP-Aufenthaltsraum. Beide standen neben der Mikrowelle und redeten leise miteinander.
An der Art, wie ihre Köpfe hochschnellten, als sie den Raum betrat, erkannte sie, daß das Gespräch vertraulich gewesen war.
»Da sind Sie ja«, sagte Archer. »Alles ruhig an Deck?«
»Im Augenblick schon«, antwortete Abby. »Ich habe gehört, ihr wartet auf eine OP?«
»Eine Transplantation«, erklärte Mark. »Das Team ist unterwegs. Das Problem ist, daß wir Mohandas nicht erreichen können. Ein Assistenzarzt im fünften Jahr soll für ihn einspringen, aber vielleicht brauchen wir dich auch noch. Fühlst du dich in der Lage zu assistieren?«
»Bei einer Herztransplantation?« Der rasche Adrenalinstoß war genau das, was Abby brauchte, um ihre Depression abzuschütteln. Sie nickte begeistert. »Mit Vergnügen.«
»Es gibt nur ein kleines Problem«, bemerkte Archer. »Die Patientin ist Nina Voss.«
Abby starrte ihn an. »Sie haben so schnell ein Herz für sie gefunden?«
»Wir hatten Glück. Das Herz kommt aus Burlington. Victor Voss träfe wahrscheinlich der Schlag, wenn er wüßte, das Sie assistieren. Aber hier entscheiden wir. Vielleicht brauchen wir im OP ein zusätzliches Paar Hände, und so kurzfristig sind Sie die naheliegende Wahl.«
»Willst du immer noch mitmachen?«
Abby zögerte keine Sekunde. »Unbedingt«, beteuerte sie.
»Also gut«, sagte Archer. »Sieht aus, als hätten wir unsere Assistentin.« Er nickte Mark zu. »Wir treffen uns in zwanzig Minuten in OP drei.«
Um halb zwölf erhielten sie den Anruf des Thoraxchirurgen im Wilcox Memorial Hospital in Burlington, Vermont: Die Organentnahme sei abgeschlossen. Das Organ schien in ausgezeichnetem Zustand zu sein und würde gerade zum Flughafen gebracht. Bei vier Grad konserviert und durch eine konzentrierte Dosis Kalium vorübergehend stillgelegt, konnte es maximal vier bis fünf Stunden lebensfähig gehalten werden.
Ohne Blutzufuhr zu den Herzkranzgefäßen konnte jede weitere verstreichende Minute zum Tod zusätzlicher Herzmuskelzellen führen. Je länger die Blutleere dauerte, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, daß das Herz in Nina Voss’ Brust wieder zu schlagen beginnen würde.
Der Flug war ein Notfall-Charter und sollte maximal eineinhalb Stunden dauern.
Um Mitternacht stand das in Grün gekleidete Transplantationsteam des Bayside-Hospital bereit. Neben Bill Archer, Mark und dem Anästhesisten
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