Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
sein Freund sein Gesicht mit den Händen bedeckt hatte und seine Schultern zuckten.
    »Hey«, sagte Jakov. »Heulst du?«
    »Nein.«
    »Du heulst doch, oder?«
    »Nein.«
    »Du bist so ein Baby! Ich hab’s doch nicht so gemeint. Du bist nicht zurückgeblieben.«
    Alexei hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und weinte tatsächlich. Er gab zwar keinen Laut von sich, aber Jakov konnte sehen, wie seine Brust vor unterdrückten Schluchzern zuckte. Jakov wußte nicht, was er tun oder sagen sollte. Das einzige, was ihm spontan einfiel, waren weitere Beleidigungen.
    Heulsuse. Weichei.
Aber er hielt sich zurück, denn so hatte er Alexei noch nie gesehen, und das machte ihm ein bißchen angst.
    Außerdem fühlte er sich irgendwie schuldig. Es war doch nur ein Witz. Warum verstand Alexei denn nicht, daß das nur ein Witz war?
    »Komm, wir gehen runter und schaukeln an unserem Seil«, sagte Jakov und versetzte Alexei einen freundschaftlichen Rippenstoß.
    Alexei wandte sich verärgert ab und sprang auf, sein Gesicht war gerötet und feucht.
    »Was ist eigentlich mit dir los?« fragte Jakov.
    »Warum haben die den blöden Pjotr ausgewählt und nicht mich?«
    »Mich haben sie ja auch nicht ausgewählt«, erwiderte Jakov.
    »Aber mit mir stimmt alles!« schrie Alexei und rannte weg.
    Jakov blieb sehr still sitzen und betrachtete den Stumpf seines linken Armes. Leise sagte er: »Mit mir auch.«
    »Springer auf c3«, sagte Koubichev, der Maschinist.
    »Das machst du immer. Probierst du nie was Neues aus?«
    »Ich glaube an das Wahre und Bewährte. Damit habe ich dich noch jedesmal geschlagen. Du bist dran, quatsch nicht.«
    Jakov drehte das Schachbrett und betrachtete es aus verschiedenen Blickwinkeln. Dann ging er in die Knie, spähte an der Reihe der Bauern entlang und stellte sich schwarzgepanzerte Soldaten vor, die in Schlachtformation auf Befehle warteten.
    »Was zum Teufel machst du denn jetzt?« grummelte Koubichev.
    »Ist dir schon mal aufgefallen, daß die Dame einen Bart hat?«
    »Was?«
    »Sie hat einen Bart. Siehst du?«
    Koubichev grunzte. »Das ist bloß ihre Halskrause. Willst du jetzt vielleicht endlich deinen Zug machen?«
    Jakov stellte die Dame zurück und nahm einen Springer. Er stellte ihn zurück, nahm ihn wieder auf, stellte ihn woandershin und nahm ihn erneut wieder auf. Um sie herum rumpelten die Maschinen der Hölle.
    Koubichev schaute nicht länger zu. Er blätterte in einem Magazin und betrachtete eine Serie von schönen Gesichtern: Die hundert schönsten Frauen Amerikas. Hin und wieder brummte er vor sich hin: »Das nennen die schön?« oder »Bei der würde ich nicht mal meinen Hund ranlassen.«
    Schließlich nahm Jakov doch die Dame und zog sie auf f6.
    »Da.«
    Koubichev quittierte Jakovs letzten Zug mit einem verächtlichen Schnauben. »Warum machst du immer wieder den gleichen Fehler und holst deine Dame zu früh raus?« Er legte das Magazin beiseite und beugte sich vor, um seinen Bauern zu ziehen. In diesem Moment sah Jakov das Gesicht in der Zeitschrift. Es war eine Frau. Eine Strähne ihres blonden Haares kräuselte sich über ihrer Wange, um ihren Mund lag ein melancholisches Lächeln, grüne Augen schienen einen nicht an-sondern durch einen hindurchzusehen.
    »Das ist meine Mutter«, sagte Jakov.
    »Wer?«
    »Die da. Das ist meine Mutter!« Er stürzte sich auf das Magazin, wobei er die Kiste umstieß, die ihnen als Tisch gedient hatte. Das Schachbrett kippte, Bauern, Läufer und Springer flogen durch die Luft.
    Koubichev schnappte sich das Magazin und hielt es über seinen Kopf. »Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir?«
    »Gib es mir!« schrie Jakov. Besessen davon, an das Foto seiner Mutter zu kommen, klammerte er sich an den Arm des Mannes. »Gib her!«
    »Bist du verrückt geworden? Das ist nicht deine Mutter!«
    »Doch! Ich kann mich an ihr Gesicht erinnern! So hat sie ausgesehen, ganz genau so!«
    »Hör auf, mich zu kratzen. Laß los, hörst du?«
    »Gib es mir!«
    »Ist ja gut, ist ja gut. Hier, ich zeige es dir. Das ist nicht deine Mutter.« Koubichev legte die Zeitschrift auf die Kiste. »Siehst du?«
    Jakov starrte in das Gesicht. Jedes Detail war genau wie in seinem Traum. Die Neigung ihres Kopfes, die Art, wie sich ihre Mundwinkel kräuselten, sogar die Art, wie das Licht auf ihr Haar fiel. »Das ist sie«, sagte er. »Ich habe ihr Gesicht gesehen.«
    »Jeder hat schon mal ihr Gesicht gesehen.« Koubichev zeigte auf den Namen unter dem Foto. »Michelle Pfeiffer. Das ist

Weitere Kostenlose Bücher