Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Sie sich mal gefragt, warum ausgerechnet das Opfer dieses Komplotts am besten verstehen wird, dass es öffentlich hingerichtet wird?«
»Walther Brass hat die Partei mit seiner Weigerung, in der Steueraffäre mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten, in eine tiefe Krise gestürzt. Er hat nicht gesagt, dass er sich nicht erinnern könne, er hat gesagt, dass er sehr wohl zur Aufklärung beitragen könne, dass er aber von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht. Der Bundeskanzler! Er hat seine persönlichen Rechte über die des Volkes gestellt.« Natascha Eusterbeck erinnerte sich noch gut an die Welle, die diese Affäre geschlagen hatte: Die Empörung in der Bevölkerung war riesig gewesen, und das zu Recht. Brass hatte sich unmöglich verhalten und damit jeden Kredit verspielt. Dass die Bundestagswahlen verloren gegangen waren, war zu fünfundneunzig Prozent sein Verschulden gewesen. Die Kanzlerin hatte das erkannt. Und dass sie sich damals als Parteimitglied aus der zweiten Reihe nach vorn getraut hatte, war eine unglaublich mutige Tat gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie das politisch nicht überleben würde, war erheblich größer gewesen als die, dass sie gestärkt aus der Sache hervorging. Heute noch gab es ein paar alte Brass-Getreue, die ihr Meuchelmord und Hochverrat vorwarfen.
Frank Wilhelm nickte und leerte sein Bier. »Ja, so stellt man es immer dar. Und wenn das die ganze Geschichte wäre, dann müsste ich Ihnen zustimmen.«
»Aber?«
»Aber hinter den Worten Walther Brass wird besser verstehen als alle anderen, wie nötig es ist, steckt doch ein unmissverständliches Signal. Für ihn, Brass. Besser als alle anderen. Was heißt das denn? Besser als die Minister? Besser als die Parteimitglieder? Besser als das gemeine Volk?« Er schob das Glas von sich. »Was sie gemeint hat, war: besser als alle anderen – mit Ausnahme eines sehr kleinen Kreises von Eingeweihten.«
»Eingeweihten? Eingeweiht worin?«
»In die Geschichte, die dieser Geschichte vorausgegangen war. Die Steueraffäre war doch für unsere heutige Kanzlerin nur ein willkommener Anlass. Sehen Sie sich ihre Karriere an: Als sie anfing, hat niemand sie ernst genommen. Da war sie nur ›die Kleine von Brass‹. Bundesministerin ist sie nicht wegen ihrer Eignung geworden, sondern aus Quoten- und Proporzgründen. Und erst ein knappes Jahr bevor sie den Artikel schrieb, hat sie auch in der Partei Karriere gemacht. Plötzlich bekam sie Einblick in Interna, begann ihre Strippen zu ziehen und geheime Akten zu studieren. Gespräche zu führen. Inoffizielle. Sie wissen doch selbst am besten, dass für den Dreck im politischen Tagesgeschäft immer die Geschäftsführer und Generalsekretäre der Parteien zuständig sind. Und die Fraktionschefs. Sie holen die Abgeordneten aus der Klinik und verschaffen ihnen einen diskreten Entzug. Sie verschieben die Gelder so, dass es sich bilanztechnisch glaubwürdig darstellen lässt. Sie verschaffen den zuverlässigen Kandidaten die einflussreichen Posten und sägen die Missliebigen ab. Sie erfahren alles, was niemand wissen soll.« Wilhelm hob den Arm, um sich noch ein Bier zu bestellen, doch dann ließ er ihn wieder sinken, bevor ihn der Kellner bemerkt hatte. »Und dann kommt eines Tages einer, der sich übergangen fühlt, und erzählt Ihnen eine riesige Geschichte, in der es um viel mehr geht als um ein paar dunkle Millionen, die irgendwer in obskure Kanäle geschleust hat.« Er machte eine Pause und wartete, ob Natascha etwas einwenden wollte. Doch sie schwieg und starrte ihn nur unverwandt an. »Tja, und dann forschen Sie weiter und stellen fest, dass die Toten tot sind. Und dass die Verantwortlichen frei herumlaufen, obwohl ein paar windige Gestalten seit Jahren hinter Gittern sitzen.«
»Ich … Ich verstehe nicht«, stotterte Natascha. »Wen meinen Sie? Von welchen Toten sprechen Sie?«
»Sie hat herausgefunden, dass es ein Kapitalverbrechen gab, das nicht auf das Konto der RAF ging, wie alle annahmen, sondern auf das von Brass. Und sie war bereit, dieses Wissen gnadenlos für ihren eigenen Aufstieg zu nutzen.«
»Aber, wie sollte sie …«
Wilhelm tippte auf das Papier, das immer noch zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Es war ja nicht das einzige Verbrechen, für das Brass verantwortlich war. Es war nur ungleich größer als die Steuergeschichten. Wenn er sich wegen der Steueraffäre stürzen ließ, würde er nicht wegen Mordes ins Gefängnis gehen. Die Ehrenwortgeschichte war die
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