Kalte Macht: Thriller (German Edition)
ansprach. »Ich kümmere mich um meines.«
Sie hatte Henrik das gemeinsame Essen im Gianni’s abgesagt. Zum zweiten Mal. Sie würden es am Wochenende nachholen. Hoffentlich. Und also saß sie – noch später, als sie selbst es erwartet hatte – am Steuer ihres alten Peugeots und zwang die Nadel auf dem Tachometer in ungeahnte Bereiche. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie nicht müde. Immer noch pumpte ihr Blut so viel Adrenalin durch ihre Adern, dass sie wie in einem Rauschzustand durch die Nacht flog.
Kurz vor Mitternacht bog sie in den kleinen Waldweg ein, der zum Häuschen ein Stück abseits der Straße führte. Es brannte noch Licht. Als sie ausstieg, konnte sie sogar den Schatten ihres Vaters erkennen, der in der Küche saß und vermutlich Zeitung las. Sie sperrte den Wagen ab und ging zur Haustür, die sich öffnete, kaum dass sie den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte. »Du hast mich gehört!«
»Die Ohren funktionieren noch ganz gut«, sagte ihr Vater und nahm sie in die Arme. Über seine Schulter drang ihr der Duft ihres Elternhauses in ihre Nase. Ein wohliges Gefühl rieselte durch ihren Körper. »Hallo, Papa.« Sie küsste ihn auf die Wange, dann hakte sie sich unter, und sie gingen ins Haus.
»Hast du schon gegessen?«
»Gegessen?« Gute Frage. Natascha wusste es nicht. Wann hatte sie zuletzt gegessen?
»Ich könnte uns ein paar Rühreier machen.«
»Gute Idee.« Rührei. Das Einzige, was ihr Vater jemals hatte zubereiten können. Natascha fragte sich, was er eigentlich aß, wenn er allein war. Auch Rührei? Oder ging er zum Essen? Natascha beobachtete ihn, wie er eine Pfanne aus dem Schrank nahm, etwas Butter hineingab und eine Schachtel mit Eiern aus dem Kühlschrank holte. Umständlich schlug er ein Ei in die Pfanne. Das zweite ging halb daneben. Das dritte fiel ihm aus der Hand, ehe er es über der Pfanne hatte. Er stellte sich so, dass Natascha es nicht sehen konnte, und versuchte unauffällig, das Malheur mit Küchentüchern wegzuwischen, während er Belangloses erzählte und sich nach der Fahrt und dem Verkehr erkundigte. Aber er konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Zittern sehr viel stärker geworden war. Ein viertes Ei fiel mit der Schale in die Pfanne. »Soll ich uns ein Bier holen?«, fragte Natascha, die ihm die Peinlichkeit ersparen wollte, noch länger zuzusehen.
»Du trinkst Bier?«
»Ich glaube, das würde mir nach dem Tag guttun.«
»Gern. Du weißt ja, wo es ist.«
»Klar.« Sie verließ die Küche, ehe die Tränen ihr in die Augen schossen. Am Fuß der Kellertreppe musste sie einen Moment innehalten. Als sie sich beruhigt hatte, stieg sie hinab, holte zwei Flaschen Bier, fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, atmete durch und ging wieder in die Küche. »Machst du mal das Bier auf, dann bringe ich das hier schnell zu Ende?«, sagte sie und schob ihren Vater sanft vom Herd, nahm zwei Teller, Besteck, teilte das Rührei auf, gab noch etwas Salz und Pfeffer dazu und stellte dann alles auf den Tisch. Das Leben alter Menschen reduzierte sich oft auf Küche und Schlafzimmer. Das war ihr schon bei ihrer Großmutter aufgefallen, die einst dieses Haus bewohnt hatte. Auch sie hatte immer, wenn sie zu Besuch gekommen waren, am Küchentisch gesessen, während das Wohnzimmer schattig und ungemütlich war – und im Winter schlecht geheizt.
»Jetzt erzähl mal, Kindchen. Wie waren deine ersten Tage im Amt?«
Tja, wo sollte sie anfangen? »Es ist natürlich alles unglaublich aufregend«, sagte sie zögernd. »Plötzlich bist du mittendrin. Im Zentrum der Macht sozusagen.« Ihr Vater nickte und blickte sie mit seinen dunklen Augen ganz tief an. Er weiß es, dachte Natascha. Natürlich weiß er es. Er weiß, dass so ein Job immer einen Haken hat. Er wird sich bloß nicht vorstellen können, wie groß der Haken ist. »Ich habe eine Menge interessanter Leute kennengelernt, zum Teil ist die Atmosphäre richtig nett.«
»Zum Teil?«
»Na ja, es gibt natürlich auch solche, die nicht so nett sind.«
»Das ist die Mehrzahl. Die gibt es überall. Du weißt, dass du manchmal ziemlich lange brauchst, bis du sie alle identifiziert hast?«
Natascha nickte. Sie war kein Küken. Das kannte sie auch aus der Staatskanzlei. »Als Sekretärin muss ich mir auf jeden Fall noch jemand anders suchen. Ich werde Petra Reber aus meinem Wahlkreisbüro bitten, ins Kanzleramt zu wechseln. Die das jetzt macht, scheint mir nicht vertrauenswürdig.«
»Du musst dich immer mit Menschen
Weitere Kostenlose Bücher