Kalte Macht: Thriller (German Edition)
hatte die Pumps seit dem Morgen nicht mehr ausgezogen, die meiste Zeit war sie hinter irgendwelchen Mitarbeitern des Hauses durch das Kanzleramt getrabt. Und nun tat sie es erneut. Dass es der Pressesprecher der Bundesregierung war, einer der begehrtesten Männer der Republik, machte es nicht besser. Sie hätte ihn gerne gegen ein entspannendes Bad eingetauscht. »Die Küche wird ja vermutlich geschlossen sein«, sagte sie. »Ich glaube, die Cafeteria können wir uns sparen.«
»Die Küche ist nie geschlossen!« Berg hielt ihr die Tür auf. »Solange im Haus gearbeitet wird, ist hier eine Art Grundversorgung gewährleistet. Kommen Sie, setzen wir uns ein bisschen, und Sie berichten mir von Ihrem ersten Tag im Kanzleramt. Sie können schon mal probieren, wie es sich anhört, ehe Sie es irgendwann Ihren Enkeln erzählen. Was wollen Sie trinken?«
Natascha ließ sich auf einen Stuhl sinken und versuchte, nicht zu stöhnen. »Einen … Cappuccino?«
Berg schlenderte zur Theke, klopfte gegen das Holz und rief: »Noch jemand da für zwei müde Krieger?« Während er seine Bestellung aufgab, holte Natascha unauffällig ihr Handy heraus und sah nach, ob sie Nachrichten hatte. Achtzehn. Achtzehn! Obwohl sie todmüde war, musste sie grinsen. Ja, dachte sie, du bist angekommen. Willkommen im Club. Zwischen 21.00 und 22.45 Uhr achtzehn neue Nachrichten. Im Kanzleramt zu arbeiten bedeutete ein Leben in der Zentrifuge: Die Welt drehte sich hier um ein Vielfaches schneller als draußen. Und die Fliehkräfte waren unvorstellbar. Sie steckte das Handy wieder weg. Keine Nachricht von Henrik, schoss es ihr noch durch den Kopf, da kam David Berg auch schon wieder an den Tisch und stellte behutsam zwei Tassen ab. »Einer der Räume, die nicht abgehört werden«, erklärte er, während er sich setzte.
»Wie, abgehört?«
»Zu viele Hintergrundgeräusche. Zu diffuse Gesprächssituation. Das zu filtern, zu sortieren und zu interpretieren kann sich kein Geheimdienst leisten.«
»Sie wollen mir nicht im Ernst sagen, dass das Bundeskanzleramt von Nachrichtendiensten abgehört wird?«
»Sie wollen mir nicht im Ernst sagen, dass Sie von etwas anderem ausgegangen sind?« Er warf ihr einen Blick zu, der Natascha fatal an den Blick der Kanzlerin erinnerte, als sie von den Ausschüssen gesprochen hatten. Hatte er ihn sich von ihr abgeschaut? Sie sich von ihm? Nein, das sicher nicht. Vielleicht war es der Blick des politischen Sarkasmus.
»Und wer hört uns ab?«
Bergs Miene verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. »Schon wieder stellen Sie die Frage falsch.« Er nippte an seiner Tasse. »Sie muss lauten: Wer hört uns nicht ab?«
Königstein/Taunus, Herrnwaldstraße, 31.10.1989, 8:36:08 Uhr.
»Ritter möchte eine andere Reihung.«
»Hat er gesagt, wie die Wagen fahren sollen?«
»Nein. Wir haben gesagt, wir scheren aus und hängen uns hinten an.«
»Also fährt er voraus?«
»Ja.«
»Und damit war er einverstanden?«
»Ja.«
»Klingt ja, als wäre er selbst unser bester Mann bei der Operation.« Ein Rauschen unterbrach die Verbindung, ausgelöst womöglich durch die sich hinter den Wagen schließende elektrische Toranlage. »Hallo?«
»Wir sind kurz unterbrochen worden. Also, irgendwelche Anweisungen?«
»Ja. Schert aus, und nehmt dann eine andere Strecke. Am besten, ihr rückt auf dem kürzesten Weg ein.«
»Alles klar. Over.«
»Over.« Die Funkverbindung brach ab.
8:36:29 Uhr. Der erste Wagen des Konvois fährt auf die Abzweigung Herrnwaldstraße/Fuchstanzstraße zu.
ZWEI
W a r es wirklich ihre eigene Vereidigung, die Natascha Eusterbeck hier erlebte? Oder war es in Wirklichkeit die ihres Mannes, nur dass dieser keinen Eid zu schwören hatte? Unter normalen Umständen hätte sie weiche Knie gehabt, als sie vor der Kanzlerin stand, die schon die Ernennungsurkunde in der Hand hielt. So aber hatte sie das Gefühl, als schwebe sie über der Szenerie und betrachte das alles von außen oder von oben, jedenfalls entfernt von sich selbst – mit Blick auf die Anwesenden: außer der Kanzlerin der Kanzleramtsminister, Staatsministerin Wende, mehrere Abteilungs- und Referatsleiter, ein Fotograf – wobei sie nicht wusste, ob er ein Vertreter der Presse war oder ein Mitarbeiter des Kanzler- oder des Bundespresseamts. Letzteres war vertreten durch David Berg und zwei seiner Assistenten. Dazu die Büroleiterin und der persönliche Referent der Kanzlerin. Nataschas Sekretärin. Und eine Handvoll Büromenschen, die sie nicht zuordnen
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