Kalte Macht: Thriller (German Edition)
regiert werden, nicht wahr? Inneres, Äußeres, Arbeit, Soziales, Verteidigung und der ganze Klimbim. Das füllt eine Kanzlerschaft doch vollkommen aus. Aber seit Monaten, ach, was sage ich, seit Jahren fast, kommt sie ja kaum noch zum Luftholen. Drei Viertel der Zeit geht für die Schuldenkrise drauf. Erst Amerika, dann Portugal, Griechenland, Irland … Jetzt praktisch ganz Osteuropa. Wir haben sie ja inzwischen Supermom getauft.« Hansjörg Beck lächelte verschämt. »Weil sie praktisch rund um die Uhr die Welt retten muss. Die sollten sich mal ansehen, was die Kanzlerin leistet.«
»Die?«
»Die anderen Regierungschefs. Die haben ja keine Ahnung, was wir hier stemmen. Aber das war sicher nicht, weshalb Sie gekommen sind, oder?«
»Nein«, bestätigte Natascha und schenkte ihm ein etwas mehr als kollegiales Lächeln. Irgendwie mochte sie ihn, auch wenn sie ihn gar nicht kannte. »Ich habe mir ganz einfach vorgenommen, bei jedem Ministerialreferenten mal vorbeizuschauen und mir ein wenig erklären zu lassen, wie die Abteilung funktioniert. Ihre Ausführungen haben mir da schon sehr viel weitergeholfen. Was ich noch nicht verstehe: Worin bestehen die Sonderaufgaben?«
Wenn sie erwartet hatte, dass Beck nun in Verlegenheit kam oder sich auf abweichende Generalluftblasen zurückzog, hatte sie sich getäuscht. Tatsächlich winkte der Ministerialreferent ab. »Was eben so anliegt«, erklärte er. »Irgendeiner muss sich ja die Nächte in den Brüsseler Hochhäusern um die Ohren schlagen und bei den Bankern den Kopf hinhalten, damit die Regierungschefs den ihren in letzter Sekunde wieder aus der Schlinge ziehen können. Manchmal geht es auch nur darum, dass mir einer der Redenschreiber einen Text zum Gegenchecken vorlegt, damit die Chefin im Bundestag nicht geschlachtet wird.«
»Geschlachtet wird?«
»Sagen wir so, wenn in der Rede falsche Zahlen oder Fakten stehen und die Opposition sie dann vorführt. Das geht ja heute alles in Echtzeit. Da sitzt ja kaum noch einer, der nicht so einen Tablet-Computer dabeihat oder sich wenigstens SMS von seiner Fußtruppe schicken lässt. Und dann erzählt die Kanzlerin was von 34,4 Milliarden Euro Garantiesumme, und irgendein Anfänger haut sie in die Pfanne, weil es 43,4 Milliarden sind.«
»Ich sehe schon, im Grunde geht es zurzeit immer nur um Europa und die Schulden«, sagte Natascha, und ihre Körpersprache signalisierte Beck, dass sie im Begriff war, ihn wieder zu verlassen.
»Na ja, im Moment geht es noch viel um Europa. Das wird sich aber wieder geben. Die Schulden werden uns bleiben. Wenn wir vor dem eigenen Haus gekehrt haben, wird uns der Westwind wieder ordentlich Schmutz hinfegen.«
»Der Westwind?« Sie stand auf.
»Eine Redensart«, erklärte Beck und wuchtete seinen schweren Leib auf, um sie zur Tür zu begleiten. »Die Amerikaner.« Er zuckte die Achseln. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Das wird alles vorübergehen. Ist ja nicht die erste Schuldenkrise.«
»Wann war denn die letzte?«, wollte Natascha wissen.
»Keine zwanzig Jahre her. Hier …« Beck griff nach einem Buch aus seinem Regal und reichte es ihr. »Das ist hier drin ganz gut erklärt. Ich bin gespannt, wie es diesmal ausgeht. Wer behauptet, er könnte das vorhersehen, lügt. Da können sie Politik machen, soviel sie wollen – am Ende siegt immer die Realität.«
Natascha nickte ihm freundlich zu und verließ sein Büro. Draußen warf sie einen Blick auf das Buch: Berthold Hagen, Der Bankier Albert Ritter .
*
Erst als sie am späten Nachmittag wieder an ihren Schreibtisch kam, bemerkte sie, dass sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte außer ein paar Keksen von den Beistelltischen in diversen Büros. Ihr Magen fühlte sich trotzdem seltsam voll an, ihr Kopf sich umso leerer. Sie hatte sich gar nicht erst der Illusion hingegeben, dass es etwas bringen könnte, Aufzeichnungen über ihren Ausflug auf die Flure des Kanzleramts zu machen. Dennoch wurde ihr erst jetzt klar, wie vielfältig verworren und vor allem undurchsichtig das Netz der Beziehungen in dieser Behörde war.
Der Aktenstapel war auf ein bedenkliches Maß angewachsen. Nun, da sie allein in ihrem Büro saß, war sie überrascht: Ihre Stelle war neu geschaffen worden. Wer also hatte all diese Arbeit getan, bevor sie ihren Dienst angetreten hatte? Sie schaute nach nebenan, doch Frau Berling war bereits gegangen. Ihr Schreibtisch lag im Dämmerlicht eines diesigen Hauptstadtabends. Natascha trat näher und betrachtete den
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