Kalte Macht: Thriller (German Edition)
musste, war ihr klar, dass man ihren Weg genau nachvollziehen konnte, selbst wenn man nicht alle Aufzeichnungen der Sicherheitskameras lückenlos verfolgte. Doch es gehörte ja zu ihren Aufgaben, sich ein Bild von der Lage im Amt zu machen und die Tätigkeiten der Mitarbeiter zu analysieren, um die interne Zusammenarbeit zu optimieren. Vielleicht war dies sogar der interessanteste Aspekt ihrer Arbeit. Mit einem Mal empfand sie beinahe so etwas wie persönliche Macht.
*
Tatsächlich wurden ihre Schritte sorgfältig beobachtet, denn nichts, was im Zentrum der Macht geschieht, bleibt unbemerkt. Siebenunddreißig Kameras zeichneten Natascha Eusterbecks Weg von ihrem eigenen Büro zu dem des Kollegen Beck auf. Sechs stationäre Speicherchips und vier Hochleistungsserver wurden mit ihrem persönlichen Code und der jeweiligen Uhrzeit gefüttert, als sie durch die Türen des Kanzleramts trat. Und ein Augenpaar verfolgte ihren Weg aufmerksam, bis der Beobachter zum Telefon griff und eine interne Nummer wählte.
»Unser Küken wird flügge.«
»Spielen Sie mal nicht den Poeten. Wo treibt sie sich denn herum?«
»Sie klopft gerade an das Büro von Beck.«
»Schau an. Was sie da wohl sucht?«
»Wir hören uns das mal an. Ich erzähle Ihnen, wenn es etwas Interessantes gibt.«
»Sie sind ein Schatz, Jäger.«
»Ich bin ein Jäger, Schatz.«
»Arschloch.«
Lachend legte Gerhard Jäger auf. Es machte ihm Spaß, in diesem Spiel der Aktive zu sein.
*
Dr. Hansjörg Beck war ein unglücklicher Mann. Man sah es an seiner Figur und an seiner Kleidung, an seinem Gesichtsausdruck und an seinem Haar. Alles an ihm hing traurig herab, obwohl er um einiges zu viel auf die Waage brachte. Auch sein bemerkenswerter Bauch wölbte sich über den Gürtel, als sei der ganze Mann dafür geschaffen, sich über den Planeten zu stülpen, auf den ihn ein ungerechtes Schicksal versprengt hatte. »Ach, und Sie sind die Neue«, sagte er und musterte Natascha über seine Brille hinweg wie eine seltene Topfpflanze. »Nett, dass Sie bei mir vorbeischauen.«
»Ja, ich dachte mir, ich mache mich mal mit den wichtigsten Mitarbeitern im Amt bekannt«, log Natascha und nahm auf seine einladende Geste hin Platz. Hansjörg Becks Büro war ein unübersehbares Lager von Bücher, Akten und Papierstapeln. Anderer Leute Archiv war mit weniger Zellulose vollgestopft als sein täglicher Arbeitsplatz.
»Tja, was soll ich sagen.« Beck versuchte ein Lächeln, das ihm so rührend missglückte, dass Natascha spontan beschloss, ihn zu mögen. »Wie die Zeitläufte so spielen, nicht wahr? Dass wir hier noch mal so bedeutend werden, das hätte ich nicht unbedingt vermutet.«
Natascha nickte wissend, ohne auch nur ansatzweise zu ahnen, was er meinte. Sogar auf dem Boden stapelten sich Bücher und Ordner. Konnte jemand substanzielle Beiträge zur Wirtschaftsordnung leisten, wenn er nicht einmal sein Büro in Ordnung halten konnte?
»So haben die Schuldenkrise und der ganze Euroärger doch noch was Gutes. Für uns zumindest. Die wollten die Abteilung ja schon abschaffen, bevor das alles losging.«
»Tatsächlich?« Natascha Eusterbeck erinnerte sich plötzlich an ihre offizielle Aufgabe. »Abschaffen, sagen Sie. Wäre das nicht äußerst riskant gewesen? Ich meine, jetzt, wo Wirtschaftsspezialisten so gefragt sind …«
»Nicht wirklich«, erklärte Beck mit verblüffender Offenheit. »Sehen Sie, die Kollegen im Finanzministerium …« Er nickte vage über das im Trüben liegende Berlin vor seinem Fenster hin. Ja, irgendwo dort drüben, jenseits des Reichstags, lag der pompöse Nazibau, in dem Alexander Rau seine Machtzentrale hatte. »Die sind ziemlich firm. Und sie arbeiten ja für dieselben Leute. Und auch die Abteilung von Frau Dr. Wende kennt sich mittlerweile sehr gut in der Materie aus.« Er zog ein schon nicht mehr ganz frisches Stofftaschentuch hervor und putzte sich verlegen die Nase. Natascha sagte nichts, sondern sah ihn nur mit offenem Blick an wie ein Kind, das aufgeregt darauf wartet, endlich die Fortsetzung der Abenteuergeschichte zu hören. So viel Aufmerksamkeit schien den Mann zu verwirren, weil er erst einmal überlegte, wo er stehen geblieben war. »Nun ja, trotzdem, es ist natürlich hilfreich, wenn man die Profis auch im Haus hat. Und wir haben hier dermaßen viel zu tun, dass ich mich frage, wie die Kanzlerin überhaupt noch die ganze restliche Arbeit machen kann.«
»Die ganze restliche Arbeit?«
»Na ja, es muss ja auch noch ein bisschen
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