Kalte Macht: Thriller (German Edition)
riesiger Apparat. Bestimmt arbeiten hier ein paar hundert Leute mehr als nötig, weil jeder nach Proporz und Ego Mitarbeiter einstellt.« Petra Reber ließ sich auf den Drehstuhl fallen und wippte ein wenig darauf herum. Dann verstellte sie die Höhe.
»Nicht wirklich«, erklärte Natascha. »Ich dachte das auch. Aber die typischen Nine-to-five-Arbeiter gibt es kaum. Wer hier einen Job hat, hat richtig gut zu tun. Die meisten arbeiten wie die Tiere, das hat mich richtig beeindruckt. Du musst dir mal die Aktenberge anschauen, die hier bewegt werden.«
»Ich sehe ja deinen.«
»Stimmt. Und dabei bin ich neu hier. Eigentlich dürfte noch kaum jemand etwas für mich zu tun haben. Irre.«
Beide blickten sie hinüber in Nataschas Büro, wo sich Aktenstapel aneinanderreihten. Einmal mehr fragte sie sich, wer das alles eigentlich vor wenigen Wochen noch bearbeitet hatte. Wer bestimmte überhaupt, was auf diesen Schreibtisch kam? All die Bürgeranfragen, Statistiken, Gesetzesvorlagen, Ausschussprotokolle, Agenden und Dienstvorgänge. Natürlich, Natascha Eusterbeck stand mit ihrer Benennung zur Staatssekretärin im Kanzleramt auf diversen Verteilern. Jeder Entwurf für eine neue rechtliche Regelung in ihrem Zuständigkeitsbereich musste ihr zur Kenntnis gebracht werden. Doch was war ihr Zuständigkeitsbereich? Inneres, weil sie im Innenausschuss saß? Verteidigungspolitisches, weil sie im Verteidigungsausschuss saß? Aber das alles hatte sie auch bisher schon in ihr Bundestagsbüro bekommen. Natascha nahm sich vor, diese Strukturen ebenfalls näher unter die Lupe zu nehmen. Denn auch das war ja ein Machtinstrument: Informationen zuteilen, zuschneiden oder vorenthalten. »Petra, sei so gut und mach mir bitte eine Liste, wer welche Unterlagen hier abliefert und woher sie kommen. Ich möchte wissen, wer darüber bestimmt, was ich hier erfahre.«
»Geht klar. Und die inoffizielle?«
»Inoffizielle?«
»Die inoffizielle Aufgabe. Du hast mir ja gerade die offizielle beschrieben.«
»Das bleibt unter uns: Die Kanzlerin hat mich gebeten, die Machtstrukturen im Haus zu erforschen. Sie will mehr darüber wissen, wer hier wem zuarbeitet und welche Seilschaften es gibt.«
» Sie will das von dir wissen? Erstaunlich. Ist ja fast, als würde ich dich bitten, mir mal einen Lageplan von meinem Keller zu zeichnen.«
»Kein schlechter Vergleich.«
*
»Sie hat ein Kind? Verdammt!«
»Seit wann interessieren Sie sich für die privaten Verhältnisse Ihrer Huren?«
»Die müssen mich nicht interessieren. Aber Sie müssen sich dafür interessieren! Das ist verdammt noch mal Ihr Job. Wie konnten Sie übersehen, dass sie ein Kind hat?«
»Das haben wir nicht übersehen. Es hat nur keine Rolle gespielt.«
»Ich würde sagen, es spielt eine ziemlich große Rolle.«
»Jetzt ja … Aber das sind ja auch ungewöhnliche Umstände.«
»Die Sie hätten in Erwägung ziehen müssen.«
»Okay. Aus heutiger Sicht wäre es natürlich klüger gewesen. Aber niemand konnte vorhersehen, dass sie sich nicht an die Regeln hält.«
»Wenn sich alle an die Regeln hielten, bräuchte ich Sie nicht.« Er knetete seine Hände, starrte vor sich hin. »Wie alt ist es denn?«
»Neun Jahre. Ein Mädchen.«
»Na, wenigstens etwas. Dann sehen Sie zu, dass Sie sie aus dem Verkehr ziehen und dass sie uns noch zu etwas nütze ist.«
»Ich kenne da einen französischen …«
»Das will ich gar nicht wissen. Das will ich alles gar nicht wissen. Sie machen Ihren Job und fertig. Hauptsache, Sie machen ihn so, dass ich nichts davon mitbekomme – und vor allem nicht mit Ihren Pannen belästigt werde.«
»Gut. Wir kümmern uns um die Kleine. Das macht uns keine Probleme.«
*
Henrik Eusterbeck arbeitete nicht gerne im Kanzleramt. Erstens war das nicht seine Welt – und die anderen wussten das auch. Zweitens kam er sich bei seiner Arbeit immer beobachtet vor. Das war nicht weiter verwunderlich. Sein Tätigkeitsfeld musste letztlich für alle irgendwie obskur sein. Niemand wusste so recht, was er tat, warum er es tat und wie er es tat. Er arbeitete in ihm jeweils zugewiesenen leeren Büros, von denen es zu seiner Überraschung im Kanzleramt jede Menge gab: Besprechungsräume für geladene Fraktionen, Delegationen und sonstige Gäste, Stabsbüros für spezielle Aufgaben, unbesetzte Stellen. Internet hatte er überall, im ganzen Haus gab es eine allgemein zugängliche WLAN -Verbindung, die man mit einem einfachen Schlüssel nutzen konnte. Für das Intranet brauchte
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