Kalte Macht: Thriller (German Edition)
hatte. Nein, anders, als sie sie selbst erstellt hätte. Aber so war das mit ihnen beiden: Henrik hatte eine ganz verschiedene Denkweise. Auf geheimnisvolle Weise bauten sich in seinem Gehirn die Informationen und Eindrücke anders zusammen als in ihrem. Während sie »in Inseln dachte«, wie er es immer nannte, dachte er »in Strukturen«. Und das war gut so. Sie hatte für sich bereits intensiv Gruppen und Grüppchen von Personen zusammengestellt, von denen sie wusste, dass sie gemeinsame Interessen verfolgten oder eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Henrik hingegen hatte die Kommunikationsstrukturen durchleuchtet und dann eine Art Ranking vorgenommen, in das Mailverkehr, Telefonate, aber auch Meetings und Terminkoordinationen einflossen. Fasziniert betrachtete Natascha sein Werk. Er war ein Genie, keine Frage. Sie fragte sich, ob diese Art von Informationen überhaupt von seinem Auftrag gedeckt war. Konnte er, durfte er mit seinem Handwerkszeug so tief in die internen Beziehungen der Mitarbeiter des Kanzleramts eindringen? Andererseits: Wäre nicht jede oberflächlichere Betrachtungsweise etwas gewesen, was jeder Ministerialbeamte in der Gerüchteküche hätte auflesen können? Natascha schloss die Datei wieder, sie würde sie sich lieber zu Hause vornehmen. Das war ihr für die Arbeit im Büro zu heiß. Irgendwie kam sie sich vor wie ein feindlicher Spion im Herzen der Macht. Sie musste sich bewusst machen, dass sie im Auftrag der Kanzlerin tätig war, derjenigen, die über all das hier regierte, und zwar im Namen des Volkes.
*
Endlich war nun die langjährige Leiterin ihres Wahlkreisbüros, Petra Reber, ins Vorzimmer eingezogen. Das gab Natascha etwas mehr Sicherheit. Sie hatte nichts gegen Frau Berling einzuwenden gehabt. Die hatte ihre Arbeit gut gemacht und war stets freundlich und korrekt gewesen, wenn auch ein wenig spröde, doch auch das konnte zu den Tugenden einer erstklassigen Sekretärin gehören. Petra Reber war anders. Sie war eine Art Ersatzmama für Natascha Eusterbeck, auch wenn sie nur unwesentlich älter war. Ihr Sohn war damals, kurz nachdem sie für Natascha zu arbeiten begonnen hatte, an Leukämie erkrankt. Fünf Jahre alt. Mitten in Nataschas erstem Wahlkampf im neuen Wahlkreis im Nordwesten Berlins. Obwohl sie vor Sorge kaum essen und schlafen konnte, hatte Petra sich jeden Tag ins Büro geschleppt. Und Natascha hatte, obwohl sie kaum mehr zum Luftholen kam, den Jungen fast täglich besucht. Zu Hause und auch in der Klinik. Das hatte sie zusammengeschweißt: zu wissen, dass jede von ihnen bereit war, alles für die andere zu geben. Einfach weil der Mensch keine Insel ist und weil jeder jemanden braucht, der da ist. Die Nachricht, dass die Tumormarker endlich im unauffälligen Bereich lagen, war am selben Tag eingetroffen, an dem Natascha in ihrem Wahlkreis verloren hatte. Sie war dann doch über die Liste in den Bundestag gekommen. Vielleicht eine Form von höherer Gerechtigkeit. Jedenfalls waren sie so zu Freundinnen fürs Leben geworden. Und nun war sie also da, im Vorzimmer ihres Büros im Bundeskanzleramt, und Natascha Eusterbeck atmete innerlich auf. Henrik hierzuhaben war gut. Aber es war nicht die Art von Teamplay, die sie mit Petra Reber pflegen konnte. Petra entdeckte jede psychologische Ungeschicktheit in Nataschas Schreiben. Sie wusste genau, wann es ratsam war, sie abzublocken. Sie beriet sie bei Formulierungsfragen, machte einen Friseurtermin für Natascha, noch ehe diese daran dachte, dass sie einen brauchte, und erkannte den Zeitpunkt, an dem es schlicht besser war, nur ein wenig über Privates zu sprechen, weil der Druck sonst zu groß wurde.
»Also, offiziell habe ich die Aufgabe, Strukturverbesserungen im Kanzleramt zu erarbeiten«, erklärte Natascha ihr, während Petra Reber noch ihren Schreibtisch umräumte. »Was kann optimiert werden zwischen den Abteilungen, personell, arbeitstechnisch und so weiter …« Sie nahm einen Schluck Kaffee und betrachtete das Bild von Petras Sohn. Sie kannte kein Kind, das mehr Sommersprossen hatte. Er war unglaublich süß.
»Schon etwas gefunden?«, fragte Petra knapp.
»Wenig. Der Laden ist eigentlich verdammt effizient durchstrukturiert. Klar könnte man das Küchenpersonal reduzieren, wenn man den Bringservice abschafft und das die Praktikanten erledigen lässt. Aber für solche Vorschläge braucht man keine Staatssekretärin.«
»Das ist allerdings wahr. Und wie sieht es sonst mit dem Personal aus? Das ist hier doch ein
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