Kalte Schulter, Heißes Herz
hart gearbeitet haben wie ich. Sie brauchten Kleinkredite für Inventar, Mieten, Maschinen oder Transporte, um sich eigene Unternehmen aufzubauen. Für meine finanzielle Unterstützung wurde ich mit Firmenanteilen entlohnt, selbstverständlich in einem fairen Rahmen. Man musste sich seine Investitionsunternehmen nur sorgfältig aussuchen. Und Stück für Stück vergrößerte sich auf diese Weise mein persönliches Vermögen. Die Kredite wurden höher, und ich investierte weiterhin meistens in die Geschäfte anderer Einwanderer.“
„Warum nur dort?“, hakte Flavia nach.
„Weil diese Menschen am besten verstehen, wie viel der Westen im Gegensatz zur Dritten Welt zu bieten hat. Und dass man mit harter Arbeit hier sehr viel erreichen kann. In Südamerika finden sich keine Geldgeber für Kleinunternehmer, und so schafft es kaum einer aus der Armut heraus. Nachdem ich selbst nicht nur saniert bin, sondern inzwischen ein beträchtliches Vermögen angehäuft habe, unterhalte ich seit Jahren Programme für die Vergabe von Kleinkrediten und Vor-Ort-Investitionen in Südamerika.“
Sein Tonfall war bissig geworden, und Flavia setzte sich kerzengerade hin, während er weitersprach.
„Wahre Wirtschaftskenner beschränken sich auf größere Geschäfte, die durch Banken unterstützt und von der Regierung subventioniert werden. Aber diese Leute haben auch nie selbst in einem Slum gelebt. Sie begreifen nicht, dass nicht ganze Völker, sondern einzelne Individuen arm sind. Und genau dort sollte man den Hebel ansetzen und helfen, um einen Umschwung in Gang zu bringen. Das Bruttosozialprodukt eines Staates wird von unten aufgebaut, von Arbeiterfamilie zu Arbeiterfamilie, und darauf liegt mein persönlicher Fokus. Das ist mein Ziel, meine Mission im Leben.“
Er verstummte, als ihm bewusst wurde, was gerade geschehen war. Noch nie hatte er sich so emotional über den wichtigsten Bereich seiner Arbeit ausgelassen – schon gar nicht vor einer Frau. Aber Flavia hatte etwas an sich, das ihn dazu veranlasste, ihr seine Seele zu offenbaren. Allein wie sie ihn in diesem Moment anblickte, rührte etwas in ihm an, das bisher unberührt geblieben war.
„Das finde ich ganz außergewöhnlich“, sagte sie schließlich. „Du hast wahnsinnig viel erreicht und beeindruckende Ambitionen.“ Sie nahm ihre Gabel wieder in die Hand. „Kein Wunder, dass du mich als nutzlose, verwöhnte Göre bezeichnest, weil ich keine Arbeit habe“, fügte sie leise hinzu und starrte auf ihren Teller.
Irgendwie war Leon sehr erleichtert über ihre Reaktion. Offensichtlich hatte Flavia nichts von seinem Hintergrund gewusst, aber sie störte sich auch nicht daran. Seine frühere Armut machte ihr nichts aus, und wenn sie Verachtung empfand, dann wohl höchstens sich selbst gegenüber. Aber darauf wollte er gar nicht hinaus.
„Keiner von uns ist dafür verantwortlich, wo er herkommt. Nur dafür, was wir daraus machen. Wie wir unser Leben führen, welche Entscheidungen wir treffen.“
Sein Kommentar sollte Flavia eigentlich ermutigen, stattdessen veränderte sich ihr Gesichtsausdruck drastisch. Die Anteilnahme von eben war blitzschnell verschwunden, und sie versteckte sich erneut hinter einer Maske der Anspannung.
Hastig nahm Flavia einen großen Schluck Wein, den konnte sie jetzt gut gebrauchen. Leons Worte setzten ihr zu. Sie fühlte sich unendlich mies, ihm gegenüber nicht genauso ehrlich sein zu können. Andererseits war sie ihrer Grandma zu größerer Loyalität verpflichtet, daran gab es nichts zu rütteln. Aber die Lüge wog umso schwerer, nachdem Flavia wusste, was für ein feiner Mensch Leon war.
Und ich habe ihn lediglich für einen weiteren Großfinanzier gehalten, schämte sie sich. Aus einer reichen südamerikanischen Unternehmerfamilie, geboren mit einem goldenen Löffel im Mund, für den sich ständig alles um den nächsten lukrativen Deal drehte.
Dabei lag die Wahrheit ganz woanders.
Unauffällig betrachtete sie ihn mit neuen Augen: den Fünftausend-Dollar-Designeranzug, die seidene Krawatte, die goldene Uhr an seinem gebräunten Handgelenk – alles Statussymbole, die von seinem Reichtum sprachen. Und Flavia sah ab heute mehr dahinter.
Einen jungen, verarmten und verzweifelten Einwanderer, der mit Entschlossenheit und Ehrgeiz seinen Weg in einem fremden Land machte. Der mit eigenen Händen das zweifelhafte Schicksal packte, das ihm bei der Geburt mit in die Wiege gelegt worden war, und es mit den neuen Möglichkeiten im reichen
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