Kalte Spur
»Ich sollte mit ihr reden.«
Joe hob die Hand. »Vielleicht. Aber vorher würde ich gern ein paar Informationen einholen. Das mach ich gleich morgen früh. Die ganze Sache ergibt noch immer wenig Sinn.«
Als er sie ansah, traten ihr Tränen in die Augen, die ihre Wangen hinunter kullerten, sobald sie blinzelte.
»Marybeth …«
»Ich hab die zwei gemocht und ihnen vertraut«, sagte sie. »Wie konnte ich auf sie reinfallen? Wie konnte ich so blind sein?«
Beide kannten die Antwort.
Joe stand auf, kam um den Tisch herum, zog sie auf die Beine und umarmte sie. Sie vergrub das Gesicht in seinem Hemd, und er küsste ihr Haar.
Obwohl sie im Bett lagen und es spät war, merkte Joe, dass Marybeth so wenig schlief wie er. Mit hinterm Kopf verschränkten Händen starrte er an die Decke. Das Licht des Halbmonds fiel durch die Jalousien und warf blassblaue Streifen übers Laken.
Er versuchte, alle anderen Spuren des Falls beiseitezulassen und zu durchdenken, was Marybeth in Erfahrung gebracht hatte.
Ob es von Anfang an falsch gewesen war, sich auf Tuff zu konzentrieren statt auf Stuart Tanner? Auch wenn Montegues Tod von den übrigen Verbrechen abzuweichen schien: Vielleicht hatte es genau danach aussehen sollen? Um die Ermittler auf Tuff zu stoßen und ihre Aufmerksamkeit von Tanner abzuziehen. Womöglich war gar nicht Montegue, sondern Tanner der Schlüssel?
Wer aber mochte so berechnend sein?
Nach Joes Erfahrung hatte ein Komplott wie dieses keinen Erfolg. Die Leute redeten zu viel, machten zu viele Fehler, hatten zu viele individuelle Beweggründe, als dass sie ein Geheimnis lange bewahren konnten. Die Koordination zweier Verbrechen in einer Nacht und in achtzig Kilometern Entfernung voneinander deutete auf ein schier unglaubliches Maß an Planung und Professionalität hin – so unglaublich, dass keiner von ihnen eine Verbindung ernsthaft in Betracht gezogen hatte. Die zwei Toten galten nach all den Tierverstümmelungen als Teil des umfassenden Schreckens, auch bei ihm. Doch falls jemand die Verstümmelungen an Rindern und Wild als Deckung genutzt hatte, um Tanner auf die gleiche Weise umzubringen, dann legte das eisige, hinterhältige Berechnung nahe. Und falls der Mörder zu solcher List fähig war, hatte er vielleicht auch Tuff umgebracht, um sein eigentliches Ziel zu verbergen.
Konnte es Cam Logue gewesen sein?
Diesen Eindruck hatte Joe nicht, obwohl er Cam immer seltsam gefunden hatte: Er wirkte übereifrig, ein wenig zu engagiert. Obwohl beides Eigenschaften erfolgreicher Menschen waren, hatte Joe das Gefühl, Cam war unter dieser Oberfläche ein wenig … verzweifelt. Welche Motivation auch immer ihn antrieb, sie war mächtig. Doch konnte sie ihn sogar bis zum Mord treiben? Eher nicht.
Falls der Bericht, den Tanner bei Cam abgeliefert hatte, zu dem Schluss kam, das Grundwasser auf der Timberline Ranch sei schlecht, wer wäre dann der Geschädigte? Cam, doch nur insofern, als die Ranch sich wahrscheinlich nicht verkaufen ließ und er keine Maklergebühr einstrich. Aber er hatte jede Menge Anwesen im Angebot, viele davon größer als die Timberline Ranch.
Dann möglicherweise Cams ungenannter Interessent? Falls er wusste, dass er nicht bohren durfte, war die Ranch praktisch wertlos. Aber er besaß die Bodenrechte ja gar nicht, die schon Jahre zuvor veräußert worden waren. Warum sollte ihn das also kümmern?
Plötzlich spürte Joe, wie sein Magen sich zusammenkrampfte. Makler arbeiten doch gar nicht für Käufer, schoss es ihm durch den Kopf, sondern für Verkäufer. Und durch die Entdeckung geschädigt wurden die Schwestern Overstreet!
Konnten aber zwei alte, verschrobene Frauen, die einander hassten, zum Mord fähig sein? Wieder ging die Sache nicht auf. Sollten die Bodenrechte nicht an den Besitz gekoppelt sein, dann war ein Bericht über schlechtes Grundwasser für einen Kunden, der eine Ranch und kein Gasfeld kaufen wollte, bedeutungslos.
Wer also war der ungenannte Interessent?
Als wäre ein Damm gebrochen, stieg eine Welle weiterer Fragen in ihm auf.
Wo waren Cleve Garrett und Deena?
Wer war L. Robert Eckhardt, dem die Nummer des Handys gehörte, und was hatte er morgens um halb fünf auf abgelegenen Waldstraßen Wyomings zu suchen?
Was, zum Teufel, bedeutete »Sunnypapp«?
Joe stöhnte.
»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte Marybeth schläfrig.
»Entschuldigung. Ich zermartere mir den Kopf.«
»Und meine Nerven.«
Eine Stunde später hatte Joe noch immer keine Antworten
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