Kalte Stille - Kalte Stille
lächelte.
Er erklärte Jan den Weg, und Jan wollte sich schon verabschieden, als Rauh ihn noch einmal zurückhielt.
»Bleibt es bei unserem Termin morgen, 17 Uhr? Wir haben in der ersten Sitzung bereits viel erreicht, Jan. Je länger wir mit der nächsten warten, umso schwerer fällt es Ihnen, dort wieder anzuknüpfen, wo wir aufgehört haben.«
Jan bemerkte, dass auch Fleischer unter den Ärzten war. Der Professor schaute zu ihm herüber und nickte ihm grüßend zu.
Du kannst Rauh auf keinen Fall absagen, dachte Jan. Diese Therapie ist Fleischers Bedingung gewesen, dir den Job zu geben. Und vielleicht ist dir dieser Blick in die Vergangenheit wirklich eine Hilfe, auch wenn er dir nicht leichtfällt.
»Ja, natürlich«, sagte Jan. »Morgen um 17 Uhr.«
Rauh wollte noch etwas sagen, doch sie wurden von Jans Piepser unterbrochen, der ihn zurück auf seine Station rief.
25
Als Jan fünf Jahre alt war und den Fahlenberger Kindergarten besuchte, gab es dort einen Jungen, den alle nur Spinner nannten. Alfred Wagner, wie der Spinner mit richtigem Namen hieß, war ein stämmiger Junge, der die anderen Kinder in seiner Gruppe um ein gutes Stück überragte. Sein Gesicht war von Sommersprossen übersät, die auf der bleichen Haut wie bösartiger Ausschlag aussahen, und kein Kamm der Welt schien sein dichtes kupferrotes Haar bändigen zu können.
Am erstaunlichsten aber waren Alfreds Augen. Diese
Augen waren von einem derart blassen Blau, dass man glauben konnte, zwei Wassertropfen hätten sich in die eng zusammenstehenden Augenhöhlen verirrt. Es waren unheimliche Augen, und Jan hatte zuweilen den Eindruck, Alfred könnte mit seinem Blick Löcher in Papier brennen.
Wenn dieser sengende Blick in Alfreds Gesicht trat, schien sich der Junge völlig zu verändern; er schien zu jemand anderem zu werden. Dann gebrauchte er schlimme Schimpfwörter und redete wirre Dinge, die niemand verstand. Deshalb nannten ihn alle den Spinner.
Ein weiterer Grund für diesen Namen war die Tatsache, dass auch Alfreds Vater »nicht ganz recht im Oberstübchen« war. So zumindest drückten es die Erwachsenen in Fahlenberg aus. Es war ein offenes Geheimnis, dass Hartmut Wagner - der vom Alter her Alfreds Großvater hätte sein können - mehrfach in die Waldklinik gebracht worden war. Unter den Fahlenberger Kindern gab es einen Spottvers, mit dem sie Alfred neckten:
Die Klapse macht die Tore auf
und Hartmut kommt im Dauerlauf.
Ihm folgt sein Sohn mit Sommersprossen,
dann wird das Tor wieder geschlossen.
Auch Jan sang den Vers mit - immerhin taten das doch alle. Jans Vater hingegen versuchte seinem Sohn klarzumachen, dass Wagner unter Schizophrenie litt und dass dies eine Krankheit war, die viele Leute hatten. Sie sei aber gar nicht so schlimm, solange die Leute nur ihre Medikamente nahmen und sich regelmäßig von einem Psychiater untersuchen ließen.
Hartmut Wagner schien jedoch nicht viel auf Psychiater und Medikamente zu geben, weshalb er recht häufig
»in die Klapse« musste, wie es dann unter den Kindern hieß.
Einmal wurde er sogar von der Polizei abgeführt, weil er im Supermarkt einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte, als ihm eine Verkäuferin erklärte, dass die Dosen mit Schinkenwurst ausgegangen seien und die nächste Lieferung erst in drei Tagen eintreffen würde.
Ein anderes Mal beschwerten sich Passanten, dass Wagner heulend über den Marktplatz laufe und jeden Vorbeikommenden vor den Russen warnte, die in Kürze einmarschieren würden.
Jan hatte irgendwann Mitleid mit Alfred bekommen, auch wenn der Junge mit den seltsamen Augen ihm nach wie vor etwas unheimlich war. Natürlich hätte Jan nie gewagt, das vor seinen Freunden zuzugeben, da er sonst schnell zum Spinnerfreund erklärt worden wäre, und das wollte Jan auf keinen Fall.
Alfred hatte keine Freunde. Seine Mutter hatte die Familie verlassen, als der Junge gerade mal drei Jahre alt gewesen war, und so blieb ihm nur sein geisteskranker Vater. Dennoch verhielt sich Jan wie alle anderen Kinder auch und mied den merkwürdigen Jungen. Denn trotz allen Mitleids war Alfred das, was die Erzieherinnen im Kindergarten als »verhaltensauffällig« bezeichneten.
Als Jans Freund Marko einmal mit einem Holzlaster gespielt hatte, war Alfred einfach zu ihm gegangen, hatte seinen Hosenlatz geöffnet und dem am Boden knienden Marko auf den Kopf gepinkelt. Marko hatte sich das nicht gefallen lassen, und es war zu einer heftigen Prügelei gekommen. Bis es den Erzieherinnen
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