Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
aus den Augen, rollen die Wangen herab und tropfen vom Kinn auf die Jacke. Nach einer Weile wird es besser, aber nur, was das Heulen betrifft. Tief drinnen bin ich verletzt und die Wunde ist noch offen. Ich fürchte mich vor dem, was hier auf mich zukommt. Habe Angst, nun ständig von Gefahr umgeben zu sein.
Anscheinend will gerade keiner etwas von mir. Also schlendere ich in den Mittelgang und fange an, mit den Kühen Bekanntschaft zu schließen. Die schwarzweißen Tiere stehen zu beiden Seiten und strecken mir neugierig die Mäuler entgegen. Dabei schnauben sie laut, um zu erschnüffeln, mit wem sie es zu tun haben. Ich strecke der ersten meine Hand entgegen, aber die Kuh schreckt sofort wieder zurück. Sie hat Angst vor Menschen – wen wundert’s!
»Kooomm«, locke ich sie, »komm nur. Brauchst keine Angst zu haben!« Ich lasse die Hand, wo sie ist, halb ausgestreckt über dem Futtertrog und bleibe ganz ruhig stehen.
Die Kuh schnaubt und guckt mit ihren großen Augen auf die Hand.
Schöne Augen hat sie. Und herrliche Wimpern! Noch immer ist meine Hand ausgestreckt.
Und auf einmal kommt eine Zunge aus dem Maul, wird lang und länger, nähert sich – ganz vorsichtig – meiner Hand, immer bereit, rasch wieder zurückzuzucken, krümmt sich und wischt dann rau und feucht quer darüber. Der Kuhsabber rinnt mir in Fäden von den Fingern.
»Siehst du«, sage ich und überlasse ihr meine Hand, »ist doch ganz einfach!«
Das also ist die erste Freundin, die ich hier habe! Ich nenne sie Martha.
Abends kommt die Bäuerin, um die Kühe zu versorgen.
»Wirf Heu runter!«
Wieder diese schrille Stimme!
Ich klettere die Stiege hinauf auf den Boden und tue, was sie von mir verlangt hat.
»Halt!«, höre ich von unten und vermute, dass es wohl reicht.
Wir verteilen das Heu über die Futtertröge, und die Tiere beginnen zu fressen.
Doch jetzt wird es wieder schwierig. »Da!«, sagt die Bäuerin, stellt mir einen Eimer hin und fängt in der anderen Reihe an zu melken.
Ich habe zwar schon oft beim Melken zugeschaut, aber selber habe ich das noch nie gemacht. Ob ich die Bäuerin fragen soll, wie es geht? Nein, ich habe keine Lust auf neue Ohrfeigen! Also stelle ich den Eimer unter das Euter der ersten Kuh in meiner Reihe, setze mich auf den Schemel und versuche, die Milch abzuzapfen. Der Erfolg ist mäßig.
»Noch nie gemacht, was?«, höre ich von gegenüber.
Ich schüttele den Kopf, ohne mich umzudrehen. Keine Ahnung, ob sie es sehen kann, aber sprechen fällt mir hier schwer.
Sie kommt, nimmt meinen Platz ein und melkt.
»So!«, sagt sie. »Immer streifen und ziehen zugleich. Und mit den Fingern musst du das so machen …« Sie zeigt mir, wie es geht. Dann steht sie auf und schaut zu, wie ich es wieder versuche.
»Na ja!«, seufzt sie und wendet sich ab.
Immerhin kann man mit ihr wenigstens reden!
Es dauert zwar eine Weile, aber ich schaffe es. Als ich fertig bin, nehme ich den Eimer, gieße die Milch durch das darüber gebundene Tuch in die Kanne und beginne mit der zweiten Kuh. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, und während der ganzen Zeit denke ich: Da wartet ja noch eine!
Aus meinen Augenwinkeln sehe ich, wie die Bäuerin wortlos ihren Eimer unter die dritte Kuh meiner Reihe stellt und sie leer melkt. Und wieder habe ich nicht den Mut, etwas zu sagen. Nicht einmal danke.
Jetzt kommt sie zu mir herüber. »Die ist noch nicht leer«, sagt sie, setzt sich unter die Erste von meinen Kühen und melkt sie nach. Da kommt noch eine ganze Menge Milch heraus. Ich schaue sehr genau hin: Je schneller ich hier lerne, desto weniger Ärger habe ich zu erwarten!
Nach dem Melken bleibe ich im Stall. Die Bäuerin ist gegangen. Weder sie noch sonst jemand scheint es für nötig zu halten, mir den Hof zu zeigen. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, führen zu nichts. Wo werde ich wohl die Nacht verbringen?
Als es dämmert, kommt die Bäuerin noch einmal mit einem Brot und legt es auf einen der Fenstersimse.
»Das muss für die Woche reichen.«
Weg ist sie.
Brot, sonst nichts! Und wieder greift die Angst nach mir. Ich erinnere mich an die Zeit im Kohlenkeller, wo wir auch wenig zu essen hatten und uns ständig vor Gewalttätigkeiten fürchteten. Dort aber waren wir wenigstens alle beieinander gewesen, hatten wir vor allem bei Mama Trost und Halt finden können.
Ich breche mir ein Stück Brot ab und esse ganz langsam. Appetit habe ich nicht, aber ich will essen.
Wie es jetzt wohl weitergeht? – Ich bleibe
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