Kalter Amok
möglichen beladen waren: Papiere, benützte und unbenützte Spritzen mit und ohne Nadeln, ein Stethoskop, eine halbleere Zigarettenpackung, etwas Kleingeld, ein Kamm und ein Kaffeebecher. Zwei schwarze Plastiksessel standen auf beiden Seiten eines kleinen Couchtischs gegenüber einem mit schwarzem Leder bezogenen Sofa. Das war alles. Haydon hatte mit einer kostspieligen Stereoanlage gerechnet und mit Hunderten von Schallplatten, aber die gab es nicht. Es gab keine Vasen, keine Pflanzen, keine Nippes – die kleinen Dinge, mit denen sich die Menschen umgeben, um ihr Heim zu einer Erweiterung ihrer Person zu machen.
Bis auf die Goya-Bilder.
Die beiden größten Wände waren wieder mit Werken des schwermütigen spanischen Künstlers bedeckt. Auf der lichten Wand, wenn man zu den Fenstern schaute, erkannte Haydon »Der Hund«, in mancher Hinsicht eines von Goyas seltsamsten Werken – das Porträt eines kleinen Hundekopfs, der von der unteren linken Hälfte des Bildes nach oben schaut. Der Rest der grauschwarzen Fläche war leer bis auf einen vagen Schatten in der rechten oberen Ecke, was Haydon das Gefühl vermittelte, als schaute der Hund über den Rand der Erde hinaus in einen leeren Kosmos. Das Bild war Gegenstand ständiger Spekulationen der Goya-Experten. Der Künstler selbst hatte ihnen keinerlei Schlüssel zur Erklärung hinterlassen.
Die andere Wand wurde beherrscht von der Radierung mit dem Titel »Nada«. Sie zeigte einen verfaulenden Leichnam, der zurücksank in das Grab, aus dem er sich erhoben hatte, nachdem er mit dem Knochenfinger das spanische Wort für »Nichts« in den Staub geschrieben hatte. Es war ein Werk tiefer Hoffnungslosigkeit.
Haydon ging rückwärts auf die Diele zu und überblickte dann die Wohnung von Rafael, die einem Begräbnisinstitut glich. Er hatte die Quartiere vieler Mörder gesehen, und während ein jedes in der Regel den ökonomischen Status seines Bewohners widerspiegelte, waren sie in allen Fällen keineswegs ungewöhnlich gewesen. Das war die ausgefallenste Wohnung, die er je gesehen hatte und die durchaus als »Mörderhöhle« bezeichnet werden konnte. Diese dunklen Räume verliehen einem ein Gefühl des Unheimlichen, ja man konnte sagen, eine spürbare Aura des Geistes, der sie bewohnte. Für Haydon war es kaum zu glauben, daß Rafael Guimaraes hier schlafen, wohnen und träumen konnte. Es war keine Umgebung, die wegen ihrer Ärmlichkeit beeindruckte, und man konnte sie auch nicht einfach als geschmacklos abtun. Nein, alles in dieser Höhle war mit großer Akribie ausgesucht worden. Es war eine Übung in menschlicher Bosheit, entstanden aus einem kranken Geist und dazu bestimmt, diesen Geist zu fördern. Diese Räume hatten ein morbides Eigenleben, das Haydon deutlich fühlte und nicht abschütteln konnte. Haydons »dunkle Saison« regte sich als Reaktion auf diese Wände, und sein Herz begann zu klopfen, seine Ohren dröhnten, sein Blick engte sich ein.
Er drehte sich um und ging rasch, floh geradezu zur Tür, riß sie auf. Hirsch wirbelte herum.
»Was ist los?«
Haydon schaute hinaus in das helle, freundliche Foyer und auf Hirschs junges Gesicht, als wären diese Helligkeit und Jugend so etwas wie ein Talisman. Er fragte sich, was sein eigenes Gesicht jetzt ausdrücken mochte. Er schwitzte heftig und fürchtete, seine Augen spiegelten das Entsetzen wider, das er in Rafaels mondloser Höhle erlebt hatte.
»Nichts.« Er schloß die Tür bis auf einen Spalt. »Laß mir eine Viertelstunde Zeit, dann machen wir, daß wir weiterkommen.«
Er schloß die Tür und versuchte, alles aus seinen Gedanken zu verbannen bis auf das, was er hier zu tun hatte. Als er wieder in der Küche stand, öffnete er den Kühlschrank. Er war praktisch leer. Es gab einen Karton Orangensaft, etwas Käse in einer Plastikdose, eine halbe Butterpackung, noch in der Folie, und zwei Flaschen Heineken-Bier. Das Tiefkühlfach war ebenfalls leer. Haydon hatte gedacht, Rafael würde vielleicht seine Sammlung von Viren hier aufbewahren. Auch die Eßecke war leer. Rafael aß offenbar nur selten in dieser düsteren Höhle.
Haydon ging wieder in den Wohnraum und schaute die Bücher und Papiere auf dem Studiertisch durch. Es gab auch hier nichts Persönliches – alles stand in Beziehung zu Rafaels Medizinstudium. Auch die Kommode mit den Glasregalen enthielt nichts von Interesse, wie er schon bei seinem ersten oberflächlichen Blick vermutet hatte. Die Wohnung war so nackt, so ohne jegliches persönliche
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