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Kalter Amok

Titel: Kalter Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David L. Lindsay
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ganz zurück bis zu der Spiegelwand, um besser sehen zu können, und erkannte eine Reproduktion von Goyas El sueño de la razón produce monstruos. Ein düsteres Kunstwerk aus Goyas spätem Schaffen, und eines aus einer Serie von Radierungen, die »Los Caprichos« genannt wurden. Es zeigte ein zerrüttetes Individuum, das an einem Tisch vornübergebeugt schlief, während schreckliche geflügelte Wesen aus der Dunkelheit herniederstießen, um seine qualvollen Träume zu bevölkern. Aber diese Reproduktion wies einen Unterschied zum Original auf, den Haydon bemerkenswert fand. Die Inschrift, die der Titel der Radierung war und am Rand des Schreibtisches stand, an dem das Individuum schlief, war in Spiegelschrift, so daß man, um sie lesen zu können, in die Spiegelwand schauen mußte. Und wenn man das tat, senkten sich die Ungeheuer aus Goyas Psyche auch auf den Betrachter.
    Haydon selbst wurde Teil des Caprichos, und die Dämonen des ungesunden Schlafs fielen ihn von hinten aus der Dunkelheit an.
    Er wandte sich wieder um, betrachtete das Zimmer, ging dann direkt zum Schrank, schaltete eine kleine Taschenlampe ein und begann die Taschen von Rafaels Anzügen, Sportsakkos und Hosen zu durchsuchen. Er fand nur etwas Kleingeld und ein halbverbrauchtes Streichholzbriefchen von einem Drugstore gegenüber dem Klinikzentrum. Unter den hängenden Kleidungsstücken war eine niedrige Kommode mit Unterkleidung, Socken, Hemden aus der Wäscherei, Taschentüchern und Accessoires. Haydon durchsuchte jede Schublade und tastete die Kleidungsstücke und die Ecken ab. Er kroch auf den Boden des Schranks und steckte die Hand in jedes der acht Paar Schuhe.
    Das Badezimmer, völlig schwarz gekachelt, enthielt die üblichen Toilettenartikel. Im Medizinschränkchen gab es keine Rauschgifte, wie Haydon angenommen hatte. Insgesamt fand er so wenig persönliche Dinge, daß er an eine Hotelsuite denken mußte. Danach kehrte Haydon ins Schlafzimmer zurück und ging zu dem ungemachten Wasserbett in seinem schwarzlackierten Rahmen. Er starrte einen Augenblick auf die glänzenden schwarzen Seidenbezüge, dann bückte er sich, ging um das Wasserbett herum und tastete mit den Händen am Rahmen entlang. Nichts. Doch dann entdeckte er Puderspuren in der einen Ecke des Raums. Es sah erst aus wie ein Lichtstreifen auf dem schwarzen Teppich, aber Haydon wußte instinktiv, was es war. Er ging darauf zu, und sah es deutlicher, je mehr er sich der Stelle näherte. Der Puder war in einem Umkreis von einem Meter fünfzig von der Ecke aus verstreut, wo die riesige Radierung an die schwarze Wand grenzte. Am äußeren Rand des Radius’ war der Puder dünner verstreut wie Rauhreif, zur Mitte hin wurde die Lage dichter und war einen Zentimeter hoch angehäuft an der Stelle, wo der Fußboden und die beiden Wände zusammentrafen. In dieser Gegend klebte ein dünner Film weißen Staubs an der rauhen Oberfläche der beiden Wände bis knapp über Haydons Kopf. Der Puder war wild durcheinandergewirbelt worden, als ob sich etwas darin gewälzt, den Puder in den Teppich getreten und die Stelle dann mit noch mehr Puder bestreut hätte. Nicht aller Puder war frisch. An manchen Stellen sah man, daß er alt und verstaubt war. Es sah so aus, als sei diese Ecke des Raums ein Lager für irgendein Haustier gewesen.
    Aber diese Spuren stammten nicht von einem Haustier. Auf dem Teppich, von der Fußbodenleiste unter dem Kunstwerk aus, verlief ein schmaler Pfad von weißem Puder bis zur Tür des Badezimmers. Dieser Pfad war am Anfang dick von Puder verkrustet, wurde aber rasch dünner und verschwand auf halbem Weg zur Badezimmertür. Rafaels Fußabdrücke waren an mehreren Stellen am Ende dieser Puderspur deutlich zu erkennen.
    Haydon kam wieder in die Mitte des Zimmers. Er warf einen Blick auf die Radierung, drehte sich um und schaute in den Spiegel. Dann verließ er den Raum.
    Die einzigen Lichtquellen im Wohnraum waren drei Lampen, von denen eine auf dem Boden stand. Haydon schaltete sie ein, aber das klaustrophobische Schwarz verschluckte jegliche Strahlung, so daß er immer noch Schwierigkeiten hatte, seine Perspektive zu finden und die Dimensionen auseinanderzuhalten. Ein Gefühl der Weite wurde verstärkt durch die wenigen Möbel: ein schwarzer Couchtisch, groß und wuchtig, mit Rauchglasplatte und eine Flasche voll Murmeln, die in einer Ecke des Tischs stand; ein langer, schwarzer Tisch mit Büchern, offenbar Lehrbücher; ein schwarzer Schrank, dessen Glasregale mit allem

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