Kalter Amok
irgendwie zu helfen. Aber ich konnte ihr nicht einmal den Speichel abwischen. Sie hat mich wieder gebissen.«
Er hielt seine rechte Hand hoch. Ein großes Pflaster bedeckte den Handrücken und einen Teil der Handfläche. »Roland und ich dachten, daß diese Krämpfe lebensbedrohend sein konnten. Epileptiker sehen auch so aus. Uns ist Angst geworden, und Roland hat einen Krankenwagen gerufen. Als er eintraf, war sie schon tot.«
Haydon lehnte sich zurück. »Haben Sie das Gefühl gehabt, daß sie vor jemandem davonlief, als sie auf Sie zukam?«
Walther schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Ich glaube, sie hat den Wagen angegriffen. Sie lief nicht vor etwas davon, sondern rannte voll auf uns auf.«
»Haben Sie sich in dem Gebüsch umgesehen, aus dem sie aufgetaucht war?«
»Jawohl, Sir. Während wir warteten, bis der Coroner mit seiner vorläufigen Untersuchung fertig war, nahm ich meine Taschenlampe und habe die Gegend abgesucht. Ich habe aber nichts gefunden. Man hätte vielleicht bei Tag genauer suchen sollen.«
»Sonst noch was? Irgend etwas, woran Sie sich im Zusammenhang mit diesem Vorfall erinnern? Sie haben vorhin gesagt, daß Sie lange darüber nachgedacht haben.«
»Das stimmt, weil es so unheimlich gewesen ist. Es kommt schließlich nicht oft vor, daß einem jemand mit voller Absicht in die Scheinwerfer rennt.«
Walther schaute erst Haydon und dann Hirsch an. Es gab nicht mehr viel zu sagen.
»Okay. Ich danke Ihnen«, sagte Haydon und schaltete das Tonbandgerät aus. »Ich bin Ihnen sehr dankbar. Hoffentlich verheilen die Wunden rasch, damit Sie die Sache vergessen können.«
Der schlaksige Streifenbeamte stand auf. »Ich wollte, das ginge so einfach.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, sie hat immerhin ein Stück aus meiner Wange gebissen, das so groß ist wie ein halber Dollar. Der Gesichtschirurg meint, ich könnte mich auf eine Serie von Hautübertragungen gefaßt machen, damit das Loch allmählich aufgefüllt wird.«
»Mein Gott«, sagte Hirsch.
Walther ging zur Tür, blieb dann stehen und drehte sich um. »Da ist noch etwas. Sie haben vermutlich noch nicht die Fotos gesehen, die man im Leichenhaus von ihr gemacht hat.«
Haydon schüttelte den Kopf.
»Das Mädchen war – wunderschön. Wirklich wunderschön.« Er lächelte ironisch und ging.
Haydon schaute dem jungen Mann nach, wie er durch den Raum der Kriminalbereitschaft ging und verschwand. Dann drückte er auf den Rückspulknopf.
»Du weißt, um wen es da geht, Leo?«
»Die Unbekannte, die Vanstraten gestern früh seziert hat.«
»Stimmt.«
Die Kassette schaltete automatisch ab. Haydon nahm sie heraus, beschrieb sie mit dem Filzschreiber und warf sie dann Hirsch zu.
»Könntest du das auf der Heimfahrt beim Leichenhaus vorbeibringen? Aber sieh zu, daß Vanstraten persönlich das Band bekommt. Wenn er nicht da ist, kannst du ihm eine Nachricht hinterlassen, bei dem Mädchen, mit dem du gestern gesprochen hast. Dann rufst du ihn zu Hause an und hinterläßt auch eine Nachricht bei seiner Frau. Ich möchte, daß er das hört, bevor er weiterarbeitet an dem Fall. Und wenn du schon dort bist, kannst du auch die Papiere ausfüllen, damit die Unbekannte wie die anderen beschleunigt untersucht wird. Außerdem brauchen wir ein retuschiertes Foto. Sie sollen sich beeilen, wir müssen das alles morgen früh in Händen haben.«
15
Am Donnerstagmorgen ging Haydon durch den fensterlosen und trübe beleuchteten Korridor im zweiten Stock des Polizeipräsidiums von Houston an der Riesner Street. Am Ende des Korridors, der unerklärlicherweise in abscheulichem Grau gefliest war, konnte er die Schreibtische der Mordkommission sehen. Er trat beiseite, um zwei schwarzen Frauen auszuweichen, die die gelben Kunststofffliesen des Bodens wischten, mit dem gleichen Desinfektionsmittel, das sie im Stadtgefängnis verwendeten und das in die Augen stach, und ging an den Toiletten vorbei, wo zwei Klempner in Overalls bei offenen Türen ein Urinbecken mitten auf dem schmutzigen Boden zerlegten.
Er ging um den großen Entlüftungsschacht herum, der sich zwischen die beiden Glastüren drängte. Der Schacht blies einen Strom warmer, medizinisch riechender Luft aus dem Korridor in den ebenfalls fensterlosen Raum der Kriminalbereitschaft, der seine Trübseligkeit dem Architekturkonzept moderner Sachlichkeit aus den fünfziger Jahren verdankte.
Dann bahnte sich Haydon einen Weg durch das Labyrinth von Schreibtischen, vorbei an Kriminalbeamten, die zur
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