Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
die Zweige ihr Fahrrad silbern im Schein der Taschenlampe aufleuchten. Es sah so aus, als beschleunigte der Verfolger jetzt seine Schritte. Hinter Agnes befand sich ein mit Wintersaat bestelltes Feld. Es erstreckte sich über einen Hügel bis zum Horizont. Nur ein einziger Baum mitten auf dem Feld bot etwas Deckung. Wenn sie jetzt losrannte, war sie mit einer Taschenlampe leicht auszumachen.
Ihr blieb die Möglichkeit, nach rechts zu entkommen und zu versuchen, von hinten doch noch das bewohnte Lehrerhaus neben dem Kindergarten zu erreichen. Dabei würde sie allerdings ihrem Verfolger eher näher kommen, als sich von ihm zu entfernen. Er konnte ihr ohne weiteres den Weg abschneiden, wenn er erriet, was sie vorhatte.
Die andere Möglichkeit war, links hinter dem Wall entlangzulaufen, wo sie wieder an der Hauptstraße landen würde. Vielleicht gelang es ihr doch noch, ein vorbeifahrendes Auto zu stoppen.
Wenn ihr Verfolger aber auf die Idee kam, sich ihr Fahrrad zu nehmen, dann war Agnes niemals schneller. Die Zeit drängte.
Agnes spürte, wie sie die Kontrolle über ihre Blase verlor.Ein warmer Strahl Urin ergoss sich durch ihre Jeans hindurch auf den Boden. Da schwenkte der Strahl der Taschenlampe plötzlich hoch und leuchtete ihr für einen Augenblick direkt in die Augen.
»Mama!«, flüsterte Agnes, vor Entsetzen wie gelähmt.
19. KAPITEL
B eruhigen Sie sich, Frau Kontos. Erzählen Sie mir alles der Reihe nach.«
Pia stand in der Küche der Kontos’ und versuchte, eine Situation unter Kontrolle zu bekommen, die gerade zu eskalieren drohte.
Es war morgens um kurz nach sechs Uhr. Gerlinde Kontos saß im Morgenmantel und mit zerzaustem Haar vor ihr am Küchentresen und stammelte unzusammenhängende Sätze vor sich hin. Aus diesem Wust an Selbstvorwürfen und Vermutungen hatte Pia die erschreckende Tatsache sondiert, dass Agnes in der letzten Nacht nicht nach Hause gekommen war.
Frau Kontos war abends auf dem Sofa eingeschlafen. Später in der Nacht war sie, ohne noch mal nach ihrer Tochter zu sehen, ins Bett gewankt und hatte am Morgen Agnes’ Bett unberührt vorgefunden.
Das Bild des Mädchens erschien vor Pias innerem Auge: jung und verletzlich hatte sie ausgesehen, misstrauisch und unkooperativ. Pia hoffte, dass sie auch unzuverlässig war und die Nacht einfach bei einem Freund verbracht hatte, ohne ihrer Mutter Bescheid zu sagen. Taten 16-jährige Mädchen das heutzutage nicht ständig? Schwer zu sagen, wenn man fast doppelt so alt war und sich im Augenblick noch älter fühlte.
Pia spürte die Angst der Mutter wie ein Gewicht auf ihrer Brust. Sie nahm ihren Notizblock und ihr Handy aus der Tasche.
»Sagen Sie mir bitte möglichst genau, wo Agnes gestern überall gewesen ist und wann«, versuchte Pia, zu Gerlinde Kontos durchzudringen. Sie hoffte, dass kühles und geschäftsmäßiges Auftreten die aufgebrachte Frau etwas beruhigen würde.
»Äh, ja, ich weiß es jetzt wieder. Sie wollte erst zum Pferd und dann zu ihrer Freundin Karla, Karla Petzold.«
»Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«
»Mit wem? Karla? Ich habe mit ihrer Mutter gesprochen und sie sagte mir, Agnes sei gestern Abend so um zehn Uhr mit dem Rad nach Hause gefahren. Ihr Mann hätte ihr noch angeboten, sie mit dem Auto zu fahren, aber Agnes hätte das abgelehnt.«
»Sie hat nichts davon erwähnt, dass sie noch weitere Pläne hatte? Einen Freund zu besuchen, Kino, Kneipe oder Ähnliches?«
»Ich hab nicht weiter gefragt. Als sie sagte, Agnes habe nicht bei Karla übernachtet, habe ich die Nerven verloren. Frau Petzold sollte ja auch nicht gleich merken, was für Sorgen ich mir mache ...«
Stolz und falsche Scham hatten da wohl den notwendigsten Maßnahmen im Wege gestanden.
»Was haben Sie dann unternommen?«
»Ich habe Sie angerufen. Ich hatte von unserem Gespräch noch Ihre Karte mit der Handy-Nummer. Sonst hätte ich gleich 110 gewählt«.
»Haben Sie noch bei anderen Freunden Ihrer Tochter herumgefragt?«
»Nein, bisher nicht ...«, kam es kläglich zurück. »Ich wareinfach wie vor den Kopf geschlagen. Ich bin immer wieder durchs Haus gelaufen und habe sie gesucht.«
»Gut, dann fangen wir damit an. Ich werde Karla Petzold anrufen. Anschließend werde ich mich in dem Stall erkundigen, wo ihr Pferd steht. Sie können inzwischen alle Nummern von Agnes’ Bekannten raussuchen. Vielleicht finden Sie ein Adressbuch von ihr, das wir abtelefonieren können ...«
»Müssen wir das tun? Glauben Sie, dass es ernst ist?«,
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