Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
schlidderte auf dem matschigen Stück zwischen dem beginnenden Asphaltweg und fuhr weiter die Hauptstraße entlang. Sie wollte nicht den einsamen, dunklen Weg hinunterfahren, mit diesem merkwürdigen Verfolger hinter ihr.
Oh, Gott, was mach ich hier denn?, fragte sich Agnes. Sie musste jetzt richtig in die Pedale treten, denn es ging wieder recht steil bergan. Hinter dem Ortsausgangsschild von Grevendorf endete die Straßenbeleuchtung. Von hier aus führte die Landstraße mehrere Kilometer durch die Felder, hin und wieder ein einzelnes, zurückliegendes Gehöft am Rande. Agnes hatte gehofft, dass der Wagen in den Grevendorfer Redder abbiegen würde, aber als sie sich umsah, befand er sich immer noch hinter ihr. Sie fuhr direkt in die Dunkelheit, wo keiner sie hören, keiner ihr mehr helfen konnte.
Warum hatte sie nicht früher angehalten? War in die nächste Hauseinfahrt gefahren und hatte an der Tür Sturm geklingelt? Die Peinlichkeit und das Aufsehen, das so ein Verhalten hervorgerufen hätte, erschienen ihr lächerlich im Vergleich zu der Situation, in der sie sich jetzt befand.
Könnte sie ein entgegenkommendes Auto zum Anhalten veranlassen? Die Straße war sehr kurvig, die Landschaft hügelig.Ein entgegenkommender Fahrer würde sie erst im allerletzten Moment sehen, oder überhaupt nicht!
Sie hörte das Auto ihres Verfolgers etwas beschleunigen. Die Angst mobilisierte neue Kräfte. Sie trat in die Pedale wie eine Wahnsinnige. Als etwa 100 Meter vor ihr auf der anderen Straßenseite die Bushaltestelle mit dem kleinen Holzunterstand auftauchte, wusste sie, dass sie noch eine Chance hatte. Sie war hier aufgewachsen und kannte jeden Winkel ihres Dorfes.
Vor der Bushaltestelle führte ein schmaler Weg zwischen den Feldern zum örtlichen Kindergarten von Grevendorf. Dabei umrundete er den alten Sportplatz, der heute nur noch ein ungepflegter Bolzplatz für die Kinder war. Der Weg war so schmal, dass nur Fußgänger und Radfahrer ihn passieren konnten – ein Auto nicht.
Die Einmündung des Weges befand sich irgendwo in der undurchdringlich schwarzen Wand aus Büschen und Bäumen dort drüben. Sie hatte nur diesen einen Versuch. Agnes bremste ab.
Als sie die Landstraße überquerte, sah sie einen kurzen Augenblick das sie verfolgende Auto sehr deutlich. Im Lichtschein der hinter ihm liegenden Straßenbeleuchtung waren die Umrisse der Person am Steuer zu erkennen.
Beim Einfahren in den Weg streifte Agnes einen Pfosten und bekam einen schmerzhaften Schlag gegen das linke Knie. Der Schmerz zeigte ihr, dass sie es geschafft hatte. Selbst wenn ihr Verfolger sein Auto in der Haltebucht abstellte und ihr hinterherlief, war sie auf ihrem Rad schneller.
Der Weg befand sich in schlechtem Zustand. Sie fuhr über freiliegende Baumwurzeln und Steine. Wasser aus den Pfützen spritzte gegen ihre Knöchel. Sie konnte nur hoffen, dass ihr nicht eine Felge brach oder ihr Fahrrad sonst irgendwie fahruntauglich wurde.
Als sie ein paar hundert Meter zurückgelegt hatte, erlaubte sie sich, etwas langsamer zu fahren und zu horchen. Zwischen den Bäumen war es so dunkel, dass sie hinter sich nichts erkennen konnte. Agnes erwartete, Laufgeräusche zu hören oder keuchenden Atem, aber bis auf ihren eigenen Atem war es still. Sie beruhigte sich ein wenig.
Dann nahm sie ihr Rücklicht ab, um in der Dunkelheit über diesen roten, punktförmigen Lichtschein nicht als Zielscheibe herzuhalten.
»Zielscheibe«, ein beunruhigendes Wort.
Malte und seine Eltern waren erschossen worden, von einer Person, die mit einem Gewehr in der Dunkelheit gelauert hatte. Wer sagte ihr eigentlich, dass ihr Verfolger kein Gewehr bei sich hatte?
Ob sie auch ihr vorderes Licht ausschalten sollte? Diesen Lichtschein konnte man von hinten natürlich auch sehen. Andererseits brauchte sie wenigstens etwas Licht, um den Weg zwischen dem Sportplatz und den Feldern zu finden.
Der Weg war von rechts von einem kleinen, dicht bewachsenen Wall, einem Knick, gesäumt. Ohne Lichtquelle fuhr sie praktisch in ein schwarzes Loch. Sie schaltete dennoch ihr Vorderlicht aus und tastete sich, ihr Rad schiebend, vorwärts. Auf diese Weise konnte sie auch viel besser hören, ob noch jemand hinter ihr her war. Doch sie hörte nur ihre Tritte auf dem unwegsamen Untergrund. Noch etwa einen halben Kilometer, dann würde sie den Kindergarten erreichen. Das Gebäude war unbewohnt und bot ihr keine Hilfe, aber direkt nebenan, im alten Lehrerhaus, wohnte eine Familie Böttcher.
Agnes
Weitere Kostenlose Bücher