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Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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zog einen Schlüsselring aus dem Schreibtisch und führte sie nach oben. Delorme kannte das Frauenhaus nur zu gut. Als einzige Frau bei der Kripo blieb es immer an ihr hängen, die verängstigten Opfer häuslicher Streitigkeiten mit ihren Blutergüssen hierher zu bringen. Von dem vertrauten Geruch nach Teppich und altem Holz zog sich ihr der Magen zusammen. »Wie ich Terri schon bei ihrer Ankunft klar gemacht habe«, sagte er, »sind wir kein Gefängnis. Ich kann niemanden gegen seinen Willen hier festhalten.«
    Er steckte einen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
    »Ihre Jacke ist weg«, sagte Fellows.
    »Ich glaube, etwas ist mit ihr passiert«, sagte Cardinal. »Sie wollte eindeutig mit uns reden. Sie hat gewusst, dass wir kommen.«
    Fellows wollte gerade die Tür wieder schließen. Cardinal hielt sie auf.
    »Nicht ohne Durchsuchungsbefehl«, sagte Fellows. »Das kann ich nicht dulden.«
    »Ned«, sagte Delorme. »Diese junge Frau ist in Gefahr. Jemand hat versucht, sie umzubringen, und wir haben allen Grund zu der Annahme, dass er es erneut versuchen wird. Wir können uns einen Durchsuchungsbefehl besorgen, doch das kostet uns einen halben Tag. So viel Zeit hat sie vielleicht nicht.«
    Fellows blickte von Delorme zu Cardinal. Delorme bat ihn mit einem stummen Blick, sich einen Ruck zu geben.
    »Hören Sie«, sagte er zu Cardinal. »Wie wär’s, wenn wir beide schon mal runtergehen und die Sache besprechen? Das dürfte so fünf Minuten dauern?«
    »Klingt vernünftig«, erwiderte Cardinal.
    Er und Fellows liefen zur Treppe, und Delorme machte die Tür hinter sich zu.
    Von Terri Tait war in diesem Zimmer nicht viel zu entdecken. Es war ein altmodischer Raum, in dem noch viel von den ursprünglichen Eichenpaneelen und schweren Gesimsen erhalten war. Die Wände sahen so aus, als wären sie ein halbes Dutzend Mal übertapeziert worden, bevor sie ihren gegenwärtigen cremeweißen Anstrich bekamen. Im Schrank hingen keine Kleider.
    Nicht weit vom Fenster lag ein großes Notizbuch auf dem Boden. Delorme schlug es auf und stellte fest, dass es gar kein Notizbuch war, sondern ein Skizzenblock. Das Mädchen hatte etwas gezeichnet. Hingekritzelte Vögel.
    Sie öffnete eine Schublade in einer kleinen Kommode. Ein einsames Sockenpaar halbkreisförmig aufgerollt. In einer anderen befanden sich mehrere Garnituren Unterwäsche und ein BH, beides neu, wohl auf Rechnung des Frauenhauses.
    Oben auf der Kommode lagen eine Bürste, eine Packung Verbandszeug, eine Nagelfeile und ein kleiner Plastikbeutel mit diversen Toilettenartikeln, ebenfalls neu.
    Delorme kniete sich hin und sah unters Bett. Nichts.
    Fehlanzeige, dachte Delorme. Wir müssen dieses Mädchen finden, und ich geh mit leeren Händen. Ned Fellows würde sie jeden Moment hier rauskomplimentieren, und ihre heimliche kleine Durchsuchung hatte nichts gebracht.
    Sie sah im Papierkorb nach. Ein alter Verband, ein Schokoriegelpapier, eine leere Coladose und ein zusammengefaltetes Blatt aus dem Skizzenblock. Delorme schlug es auseinander und strich es auf der Kommode glatt. Es war noch so eine Zeichnung wie die in dem Block auf dem Schreibtisch. Diese hier war allerdings wesentlich detaillierter. Sie stellte einen Adler mit riesigen Klauen dar, der sich gerade von einem Ast schwingen will. Das Sujet hätte an die Wand einer Jagdhütte gepasst. Wieso hatte sie so viel Mühe darauf verwandt? Die plastisch vortretenden Formen, die Kreuzschraffur, der fein gezeichnete Schnabel und die Federn. Hatte das Mädchen nichts Wichtigeres im Kopf?
    Delorme steckte das Blatt in ihre Innentasche und ging wieder nach unten. Als sie das Büro betrat, warf sie Cardinal einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Nicht nötig, Fellows zu erzählen, dass sie die Zeichnung mitgenommen hatte.
    »Das bleibt eine Ausnahme, ihr zwei«, sagte Fellows. »Am Ende heißt es noch, ich lass die Bullen in den Zimmern der Gäste rumschnüffeln.«
    »Es sind besondere Umstände«, sagte Delorme. »Das müssen Sie zugeben.«
    »Das soll mein Gewissen beruhigen? Wie auch immer, sobald sie hier auftaucht, gebe ich Ihnen sofort Bescheid.«
     
    Während er den Motor anließ, sagte Cardinal: »Hast du wirklich nichts gefunden?«
    »Also, sie hatte schließlich kein Gepäck dabei. Ich hab nur ein paar Sachen gefunden, die ihr das Frauenhaus besorgt haben muss. Aber das hier lag im Papierkorb …«
    Delorme zog die Zeichnung aus ihrer Jackentasche.
    Cardinal runzelte über den Vogel erst einmal die Stirn.

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