Kalter Mond
»Okay, sie kann also einen Vogel zeichnen. Das ist alles?«
»Das ist alles.«
»Na schön. Wir werden sie zur Fahndung ausschreiben. Wir könnten Glück haben – immerhin wird sie ja gerade erst vermisst.«
Cardinal trat aufs Gas, und Delorme griff nach ihrem Gurt.
47
S o böse hatte David Letterman noch nie ausgesehen. Man konnte nicht sicher sein, ob das wirklich David Letterman war oder die höllische Ausgeburt eines Kifferhirns. Aus der berühmten Lücke zwischen den Vorderzähnen traten Rauchkringel hervor, und die Ohren schienen von winzigen züngelnden Flammen besetzt – in dem spärlichen Licht, das zwischen den Brettern hereindrang, war das schwer zu erkennen.
»Sie sehen aus, als könnten Sie was zu trinken vertragen, Kevin.« Letterman warf ihm sein Lausbubenlächeln zu und ließ zwei Rauchsäulen aus den Nasenlöchern steigen. »Wie wär’s mit einem Schuss Cold Turkey?«
Er zog eine Flasche und zwei Gläser aus einer Schreibtischschublade und hielt das Etikett ins Publikum. Dafür erntete er Gelächter und einen sarkastischen Kommentar vom Bandleader Paul Dingsda, den Kevin nicht ganz verstand.
Letterman goss zwei doppelte Whisky ein. Er leerte seinen in einem Zug und warf das Glas über die Schulter.
Kevin wusste, dass das nicht wirklich geschah. Der Gestank in dieser Hütte machte die Entzugserscheinungen umso schlimmer – der faulige Todesgeruch, der Kessel, diese beiden soliden Haken, die in den Balken über ihm eingeschraubt waren. Das Surren der Schmeißfliegen. Zuweilen war Kevin davon überzeugt, dass es sich dabei um böse Geister in Fliegengestalt handelte, doch die meiste Zeit wusste er, dass es einfach nur Fliegen waren.
Die handgreiflichste Realität war sein eigener Körper. Mit den Schweißausbrüchen konnte er leben. Das Wasser lief ihm nur so herunter und brannte ihm in den Augen, und er wusste,dass dies – von der Tatsache einmal abgesehen, dass er sich häufiger übergeben hatte, als er zählen konnte – der Grund für seinen Durst war, der von seiner ganzen Kehle Besitz ergriff.
Auch der Schüttelfrost war zu ertragen. Das Zähneklappern, die Arme und Beine, die wie Espenlaub zitterten, selbst wenn er sie zusammenpresste, um das Beben einzudämmen. Er heulte nach Heroin. Red Bear war so geistesgegenwärtig gewesen, es ihm aus der Tasche zu ziehen, bevor er ihm die Hände hinter den Rücken band und dann die Tür von außen abschloss, und jetzt weinte Kevin wie ein kleines Kind danach. Nicht über den Schüttelfrost, die Schweißausbrüche oder die Übelkeit – damit kam er klar. Kevin hatte keine Ahnung, ob noch jemand außer ihm dieses Symptom kannte, doch für ihn war das Hauptsymptom seiner Sucht dieser Schmerz in seiner Brust. Er kam und ging, doch wenn er kam, fühlte es sich an, als würde er ihn nie wieder verlassen wollen. Dieser heftige, nagende Schmerz fühlte sich so an, als würden ihm Lungen und Blutgefäße weggekaut, bis nur sein Herz übrig war, um im Takt seines erbärmlichen Verlangens zu schlagen.
»Wie steht’s mit Knochenschmerz?«, wollte Letterman wissen. »Wie gehen Sie mit dem Knochenschmerz um, Kevin?«
Von den physischen Entzugserscheinungen war der Knochenschmerz das Schlimmste. Es kam ihm so vor, als wären ihm in sämtlichen Knochen, von den winzigsten Scharniergelenken in den Fingern und Zehen bis zu den Hauptknochen in Brust, Armen und Beinen, Eisenstangen durchs Mark getrieben worden, und jetzt hämmerte irgendein Dämon darauf herum, so dass sie wie Stimmgabeln summten und heulten.
Nichts half. Kein tiefes Durchatmen, nicht die Vorstellung schöner Dinge, nicht die Konzentration auf einen Gegenstand: zum Beispiel diesen breitesten Lichtstreifen oder diesenFarbklecks auf dem Boden kaum dreißig Zentimeter von seiner Nase entfernt. Kevin war sich nicht so sicher, ob dieser braune Fleck tatsächlich Farbe war. Und so genau wollte er es auch gar nicht wissen.
»Sagen Sie, was glauben Sie eigentlich, woraus dieser braune Fleck da auf dem Boden besteht, Kevin?«
»Ich weiß nicht, Dave.«
»Nein, wirklich. Ich bin neugierig. Ist doch kein Blut, oder?«
»Ich weiß nicht, Dave.«
»Was meinen Sie wohl, von wem es stammt? Ich dachte, Guthrie wurde woanders umgebracht.«
»Ich weiß nicht, wo er umgebracht wurde, Dave.«
»Dann nehme ich mal an, es könnte Terris sein.«
»Es ist nicht Terris. Terri ist nach Vancouver zurückgefahren.«
»Schwer zu sagen, ohne irgendwelche weiteren Anhaltspunkte. Könnte von ihr sein oder
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