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Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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Lächeln, was ausnahmslos zu bedeuten hatte, dass jetzt etwas Unangenehmes kam. »Ein Elternteil«, korrigierte sie ihn. »Ich hatte gehofft, du kommst mit.«
     
    Die Tilleys wohnten an der Main West hinter dem Parkplatz zum Country-Style-Donuts-Imbiss. Dank der landesweiten Obsession für frittiertes Gebäck gab es keine Immobilie in der ganzen Stadt, die so schnell expandierte wie dieser Parkplatz, der in seiner Gefräßigkeit ein Kalksteinkloster, eine Reihe kleiner Läden sowie ein paar edwardianische Häuser verschlungen hatte. Die Adresse der Familie Tilley lag fünfzig Meter weiter westlich, inmitten eines Blocks aus roten Backsteinbauten, bei denen in jüngster Zeit hässliche Ladenfronten wie Pilze aus dem Boden schossen: Deirdres Schönheitssalon, Arktis-Klimaanlagen, Anwaltskanzlei Prent & Polone.
    Zuweilen kommt es vor, dass ein Gewaltverbrechen die Polizei zu einer guten Adresse führt, einer Familie mit guten Manieren und Abschlüssen von den besten Universitäten; Cardinal hatte das selbst schon ein-, zweimal erlebt. Doch das waren seltene Fälle. Der Mord an Morris Tilley war eher der Regelfall.
    Seine Mutter bat sie in den Flur. Es war ein dunkler, enger Raum mit einem leichten Geruch nach Moder und alten Kleidern aus Secondhand-Shops am unteren Ende der Skala. Mrs. Tilley selbst war eine Spatzenportion von einer Frau in einem verschossenen geblümten Kleid, die ihnen hinter einer Schmetterlingsbrille hervor entgegenblinzelte.
    Cardinal stellte sich und Delorme vor.
    »Mrs. Tilley, sind Sie die Mutter von Morris Tilley?«
    »Ja. Steckt der Junge schon wieder in Schwierigkeiten? Er will das eigentlich nicht. Er denkt einfach nicht nach, wissen Sie? Er findet etwas ganz toll und lässt sich zu einem Fehler hinreißen. Und dieses Marihuana hat ihm von Anfang an nicht gut getan. Andere Mütter beklagen sich, ihre Kinder wären süchtig nach Videospielen oder nach ihren Computern, und ich würde alles darum geben, wenn Morris sich für so was interessieren würde. Ich meine, er hat Marihuana entdeckt, da war er mal gerade zwölf, und seitdem ist er benebelt. Aber er meint es nicht bös, wirklich nicht. Er ist ein guter Junge, ich meine, Mann. Auch wenn er in mancher Hinsicht eher noch ein Junge ist. Was hat er diesmal angestellt? Nichts Ernstes, will ich hoffen.«
    »Ich fürchte, wir müssen Ihnen etwas weitaus Schlimmeres mitteilen, Mrs. Tilley. Vielleicht setzen Sie sich besser.«
    »Ja, sicher. Gehen wir ins Wohnzimmer.« Ein Schaukelstuhl aus braunem Vinyl mit schwerer Schlagseite stand neben einem prall gepolsterten Sofa, über dessen beide Enden ein Tiger hergefallen zu sein schien.
    »Möchten Sie eine Tasse Tee? Kaffee?«
    »Nein, danke. Bitte setzen Sie sich, Mrs. Tilley.«
    Mrs. Tilley schwankte ein wenig, und die Farbe wich aus ihrem Gesicht, als hätte jemand an ihren Füßen einen Stöpsel gezogen. Sie ließ sich auf das zerrissene Sofa herab und faltete die Hände ordentlich auf dem Schoß.
    »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Morris tot ist, Mrs. Tilley.« Cardinal pochte heftig das Herz. An das hier würde er sich nie gewöhnen. »Jemand hat ihn umgebracht.«
    »Ihn umgebracht?«
    »Es tut mir sehr leid.«
    Mrs. Tilley wandte sich an Delorme, wie wenn eine FrauVernunft in die Sache bringen könnte. »Wieso sollte irgendjemand Morris umbringen? Morris ist … Morris kommt mit jedem … Morris kann keiner Fliege was zuleide tun. Er raucht zu viel Marihuana, das stimmt. Und er kann keinen Job halten, aber schließlich ist es in letzter Zeit der Wirtschaft ja auch nicht gut gegangen, wissen Sie. Und Morris ist sehr wählerisch; der nimmt nicht einfach, was kommt. Aber er lässt sich nicht auf Prügeleien ein. Das kann nicht Morris sein. Da liegt eine Verwechslung vor, Sie werden sehen. Sie haben den Falschen.«
    »Seine Identität wurde durch den Zahnstatus ermittelt«, sagte Delorme. »Seine Zähne. Ihr Sohn hat, glaube ich, einen überzähligen Schneidezahn?«
    Das folgende Schweigen war kurz, die Stille tief. Irgendwo tickte eine Uhr: eine Sekunde, zwei Sekunden, drei. Und dann zerriss das Heulen von Mrs. Tilley die Luft. Es war laut und lang und mochte aus der Ferne wie das Heulen eines Hundes klingen. Wie eine Erstickende schnappte sie nach Luft und gab einen zweiten heulenden Laut von sich, der Cardinal nicht so sehr wegen seiner Lautstärke in den Ohren wehtat, sondern weil sich in dem langen, gespensterhaften Klagelaut das Leiden aller menschlichen Seelen zu vereinen

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