Kalter Mond
schien.
Delorme kam mit einem Glas Wasser aus der Küche zurück; Cardinal hatte nicht einmal mitbekommen, wie sie aufgestanden war. Es dauerte eine Weile, doch irgendwann gelang es Delorme, die Frau zu beruhigen. Das laute Heulen ging in Schluchzen über, das Schluchzen in stumme Tränen, und irgendwann war sie in der Lage zu reden.
»Ich muss ihn sehen«, sagte sie. »Sonst werde ich es nie ganz glauben.«
»Selbstverständlich«, sagte Delorme. »Wir können das mit dem Gerichtsmedizinischen Institut in Toronto absprechen, wenn Sie möchten. Oder die vereinbaren etwas mit IhremBestattungsunternehmen, und Sie können ihn hier noch einmal sehen.«
Dies löste einen weiteren Tränenstrom aus. Cardinal hatte die Erfahrung gemacht, dass der Informationsfluss oft ganz versiegte, wenn man erst einmal zuließ, dass die Trauer gänzlich von den Hinterbliebenen Besitz ergriff. Auf die Gefahr hin, taktlos zu wirken, ging er mit der ersten Frage dazwischen.
»Mrs. Tilley, wann haben Sie Ihren Sohn zum letzten Mal gesehen?«
»Erst vor kurzem. Vor zwei oder drei Monaten.«
»Zwei oder drei Monate?«
»Also, zwei. Morris hat oft nur Sinn für seine Angelegenheiten. Seine Projekte und so, und dann sehe ich ihn ein paar Monate nicht. Dann komme ich irgendwann von Loblaw’s nach Hause, und da sitzt er am Küchentisch und verputzt eine Stulle, mit sich und der Welt zufrieden. Er ist ein guter Sohn. Manchmal bringt er mir Blumen mit. Letztes Mal waren es Tulpen. Er weiß, dass ich Tulpen mag. Seine Brüder kämen nie auf die Idee.«
»Die letzte Adresse, die wir von ihm haben, ist Marsden Road«, sagte Delorme. »Oben in Greenwood?«
»Ja, das stimmt. Er teilt sich eine Wohnung mit Freunden.«
»Was hatten Sie für einen Eindruck, als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«
»Na ja, wie immer. Morris ändert sich nicht. Er hat sich nicht geändert, seit er zwölf war. Unbekümmert, ein bisschen gedankenlos. Ein bisschen geistesabwesend, manchmal. Ich denke, das Marihuana ist daran schuld. Er hat mir erzählt, dass er gerade gutes Geld verdient.«
»Gutes Geld womit?«
»Dass er bei einer Spedition arbeitet. Beladen und entladen. Nichts Berückendes, aber ’ne Lohntüte immerhin.«
»Hat er erwähnt, bei wem er arbeitet?«
»Nein. Nein, er hat nur gesagt, es sei ein guter Laden. So hat er es genannt. Er hat gesagt: ›Ma, ich bin endlich bei einem guten Laden. Es ist ein Anfang.‹ Nicht dass ich geglaubt hab, dass es ihn weiterbringt. Er bleibt ja nie bei der Stange. Aber ich war froh, dass er ein bisschen Geld in der Tasche hat. Er hat mir sogar was mitgebracht. Hat nichts gesagt, aber als er wieder weg war, fand ich einen Hundert-Dollar-Schein unter der Keksdose.«
»Haben Sie irgendwann einmal jemanden von den Leuten gesehen, bei denen er arbeitet, oder einen seiner Freunde?«
»Nein, das heißt, einen. Einen Jungen namens Sam, den er ab und zu mitbrachte. Die beiden saßen dann in der Küche und verdrückten ein Dutzend Plätzchen auf einmal. Hermits aß er am liebsten – Sie wissen schon, Zimt und Rosinen und nicht zu süß? Also, wenn Morris da ist, hat man die besser nicht im Haus.«
»Wie hieß Sam mit Nachnamen, Mrs. Tilley, wissen Sie das?«
»Nein, tut mir leid. Sah nicht schlecht aus, der Junge.«
»Können Sie ihn wohl beschreiben?«
»Er ist hellhäutig, hat sehr dunkles Haar und sehr helle Haut. Er ist kleiner als ich, und ich bin nur eins achtundfünfzig ohne Schuhe.«
»Nicht zufällig Sami Deans, oder?«, fragte Delorme. »Stämmig gebaut, wirkt immer irgendwie verdutzt?«
»Ja, könnte man sagen. Ich hab seinen Nachnamen nie erfahren, jedenfalls hat Morris ihn immer Sammy genannt, als wäre er ein kleines Kind. Natürlich ist in Wirklichkeit Morris nie erwachsen geworden. Jetzt wird er es wohl auch nicht mehr.« Mrs. Tilley legte die Hand vor die Augen und weinte eine Weile hinein.
Delorme fand irgendwo eine Schachtel Kleenex-Tücher.
»Mrs. Tilley, können Sie sich ganz bestimmt nicht erinnern, einmal einen anderen Freund oder Kollegen von Morris kennen gelernt zu haben?«, fragte Cardinal. »Das ist überaus wichtig.«
»Morris brachte normalerweise niemanden mit, fürchte ich. Noch nie. Er war ein umgänglicher Junge, aber am Ende kam er doch allein nach Hause – schon als ganz kleiner Junge.«
Sie brauchten nicht lange, um festzustellen, dass Mrs. Tilley im Grunde nichts über die Aktivitäten ihres Sohnes wusste. Nach ein paar weiteren Fragen kam sie noch mit zur Tür, tupfte
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