Kalter Schlaf - Roman
ihr theoretischer Teppich werde ihr unter den Füßen weggezogen. Sie notierte sich drei Wörter: Schuhe. Tasche. Nein.
»Sie haben … sie also nicht gefunden?«, fragte Anna, deren Gesicht sich weinerlich verzog, als sie von Kate zu Joe hinübersah.
»Nein. Sie sind anscheinend … mitgenommen worden«, antwortete Kate. Sie hatte bestimmte Wörter vermeiden wollen, merkte nun aber, dass der Ausdruck nicht nur lahm, sondern bedrohlich klang.
Mr. Westbrooke hatte sie aufmerksam beobachtet und rutschte sichtlich angespannt nach vorn.
»Moment mal! Sie kommen aus der Rose Road? Neulich ist ein Mann von dort im Fernsehen interviewt worden. Ich habe ihn zufällig gesehen. Auch die Zeitung hat darüber berichtet. Er hat gesagt, hier sei kein Serienmörder am Werk!« Er starrte die beiden an. »Oder gibt es vielleicht doch einen? Vermutet die Polizei das?«
Joe hob beschwichtigend eine Hand. »Wir ermitteln in alle Richtungen, Mr. Westbrooke«, sagte er ruhig.
Jodys Vater war erkennbar schockiert. »Hätten wir geahnt, dass auch nur der Verdacht bestand, hier könnte einer unterwegs sein, hätte ich unsere Tochter vom Club abgeholt. Warum hat das keiner gesagt?«
Mrs. Westbrooke berührte seinen Arm, und er sank langsam zurück. Sie streichelte seine Hand.
Kate erwiderte seinen Blick, dann sah sie weg. Zum Glück hatten sie erst nach Jodys Verschwinden mit Pressevertretern gesprochen. Sonst hätten tonnenschwere Schuldgefühle – gerechtfertigt oder nicht – auf ihren Schultern gelastet.
Ihre nächste Frage richtete sie an Anna.
»Wie hat Jody ihre Zeit verbracht, wenn sie nicht arbeiten musste?«
Die junge Frau tupfte sich die Augen ab. »Sie hat leidenschaftlich gern getanzt.« Einige Sekunden Schweigen, dann: »Sie hat in der Stadt gearbeitet … ihr Job hat ihr Spaß gemacht. Sie hatte dort viele Freunde.«
»Wo ist sie wochentags zum Lunch oder auf einen Kaffee hingegangen?«
Anna und ihre Eltern wechselten einen Blick. Die junge Frau antwortete auch für sie. »Ich … nun, in kein bestimmtes Lokal. Zumindest hat sie nie eines erwähnt. Zu Mittag gegessen hat sie in der Firma, aber wenn sie allein war, ist sie manchmal in einen Coffeeshop gegangen …«
»Wissen Sie zufällig, in welchen?«
Anna wechselte einen Blick mit ihrer Mutter, dann sah sie wieder zu Kate hinüber. »Nein.«
»Nur noch ein paar Fragen, dann gehen wir. Hat Jody immer High Heels getragen?«
Anna nickte. »Ja. Sie mochte es nicht, kleiner als ihre Freundinnen zu sein, und dachte, das sei ein guter Trick, um bemerkt zu werden.«
Mrs. Westbrooke schluchzte.
Sie kehrten wieder in die Rose Road zurück, nachdem sie erfahren hatten, dass Jody keinen festen Freund und niemals Schwierigkeiten mit Männern irgendwelchen Alters gehabt hatte. Auch Bernie wurde jetzt mitgeteilt, was sich im Haus der Familie Westbrooke abgespielt hatte. Dann merkte Kate, dass Joe sie prüfend betrachtete.
»Was?«
»Bist du noch immer davon überzeugt, dass er sie länger beobachtet hat?«
Kate nickte.
»Irgendwelche Zweifel, dass Jody in das Schema passt?«, fragte er.
»Wie meinst du das?«
»Bis zu diesem Abend hatte er nicht gemerkt, wie klein sie war. Er hat auch nicht gemerkt, dass ihr Stil …«
»Ich weiß, was du sagen willst, Corrigan«, warf Bernie ein. »Rote High Heels und diese Tasche. Irgendwie, na ja, nuttig, Doc. Passt nicht zu deiner Kleidungstheorie.«
Dann begriff Kate plötzlich. Ihre an diesem Morgen geäußerte Theorie stand ihr auf einmal klar vor Augen. Jetzt hatte sie Gewissheit. Sie stand auf, trat an die Glastafel und drehte sich zu ihren Kollegen um.
»Jody hat in das Schema gepasst. Bis er die Beobachtungsphase abgekürzt hat. Er hat ihr nicht lange genug nachspioniert, um zu merken, dass sie klein war. Nicht lange genug, um festzustellen, dass es bei ihr Stilbrüche gab.« Diese Erkenntnis war so plötzlich gekommen, dass Kate das Bedürfnis hatte, sich hinzusetzen.
»Wie ich bereits gesagt habe, muss sich in der Zeit, in der er Jody nachgestellt hat, etwas ereignet haben. Ich habe vermutet, er sei abgelenkt worden, aber das kann nicht die ganze Erklärung sein. Was immer ihm zugestoßen sein mag, es hat sein Bedürfnis, Jody zu entführen und zu ermorden, aufs Äußerste gesteigert.« Sie runzelte die Stirn, dann sah sie ihre Kollegen an und fuhr fort: »Jedenfalls so stark, dass er die Beobachtungsphase drastisch abgekürzt hat. Irgendetwas hat seine Fantasien in Gang gesetzt.« Kate sah auf die Tischplatte
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