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Kalter Schlaf - Roman

Kalter Schlaf - Roman

Titel: Kalter Schlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A J Cross
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wie sich das Individuelle hinter der Theorie am besten erklären ließ.
    Sie holte tief Luft. »Um das Wesen hinter seiner Alltagsmaske zu verstehen, müsst ihr euch ein Kind von eineinhalb bis zwei Jahren vorstellen, das ihr kennt oder mal gekannt habt.« Ihre Kollegen ließen sie nicht mehr aus den Augen, hörten aufmerksam zu. »Der Psychopath wird von demselben absoluten Egoismus beherrscht, von derselben Entschlossenheit, sich das zu verschaffen, was er begehrt. Ihre Weltsicht ist in gewisser Weise identisch, denn für das Kleinkind und den Psychopathen gilt: ›Ich will! Ich brauche! Gib’s mir! Und ich will es sofort! Mir ist es egal, ob du müde oder krank oder anderweitig beschäftigt bist. Erfülle meine Bedürfnisse! Gib mir, was ich verlange!‹«
    Bernies Stirn glättete sich, als Kate fortfuhr: »Weder der Zweijährige noch der Psychopath besitzen innere Hemmungen. Er macht einfach, was er will. Trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden. Die meisten Kleinkinder fangen langsam zu begreifen an, dass auch andere Menschen Gefühle und Bedürfnisse haben. Das kommt daher, dass es zum Glück im Leben der meisten Kleinkinder mindestens einen Menschen gibt, dem sie Nahrung, Liebe und Pflege verdanken.«
    Kate dachte an Maisie als Zweijährige zurück. »Deshalb tätschelt ein Kleinkind einem vielleicht den Arm, wenn man Kopfschmerzen hat, oder versteckt kaputte Spielsachen, weil es ein schlechtes Gewissen hat.«
    Sie spürte Joes Blick auf sich, als sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn strich. »Der erwachsene Psychopath, unser Täter, hat diese Entwicklungsstufe übersprungen. Gegenwärtig spielt er einen vollständig entwickelten Menschen und hat sich eine falsche Persönlichkeit zugelegt. Weil …« Um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, tippte Kate mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »… er vor der Welt verbergen muss, dass er weder Mitgefühl noch Schuldbewusstsein besitzt und deshalb kein Schamgefühl kennt.«
    In der darauf folgenden Stille setzte Kate sich wieder an den Tisch, bevor sie weitersprach.
    »Er ist ein Erwachsener, der nicht über das ›Her damit, sonst setzt’s Prügel‹-Stadium herausgekommen ist. Aber« – sie sah ihre Kollegen nacheinander an – »dumm ist er nicht . Er weiß genau, dass er nur Tadel und Bestrafung zu erwarten hätte, wenn er öffentlich erkennen ließe, was er ist und was er will.«
    Sie wusste nur allzu gut, dass weite Kreise, vor allem bei der Polizei, bestimmte Kategorien von Straftätern für geisteskrank hielten. Sie sah sich am Tisch um. »Verrückt ist er nicht. Das beweist die Tatsache, dass er sein asoziales Verhalten tarnen kann, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. Psychopathen können die in ihrem Umfeld gültigen Spielregeln oft erstaunlich gut einhalten – zum Beispiel am Arbeitsplatz oder im Umgang mit anderen Menschen.«
    »Dieser Kerl bemüht sich echt, sozial angepasst zu sein? Er ist eine Art Chamäleon, stimmt’s?«, fragte Joe.
    Kate nickte. »Als Heranwachsender hat er andere Leute und ihr Verhalten genau beobachtet. Dass er seine wahre Persönlichkeit tarnen kann, liegt in erster Linie daran, dass er darstellen kann, was er beobachtet hat. Er ist ein guter Imitator .«
    Julian ergriff das Wort. »Das heißt also, dass er überall sein könnte? Unentdeckt, indem er den ›Normalen‹ spielt?«
    Sie lächelte ihm zu. »Ja. Zum Glück sind nicht alle Psychopathen sexuell abartig veranlagt, können aber trotzdem Probleme verursachen. Denkt mal darüber nach«, forderte sie ihre Kollegen auf. »Wo könnte ein Psychopath, der nicht sexuell abartig veranlagt ist, einen Job finden, in dem man ermutigt wird, rücksichtslos, egoistisch und arrogant zu sein?«
    »Londoner City. Unterhaus«, knurrte Bernie.
    »Wall Street«, fügte Joe hinzu.
    Kate nickte. »Solche professionellen Umfelder bieten den idealen Unterschlupf für den gewöhnlichen Psychopathen, der alles will und dessen Lebensmotto ›Ich, mir, mich und ich‹ lautet – genau wie bei dem Kleinkind. Er kleidet sich gern modisch und hat die Hände auf unseren Pensionen und Investments. ›Schlangen in Anzügen‹, so hat ein berühmter Wissenschaftler sie genannt.«
    »Soll das heißen, dass sie ihr Leben lang die Leute betrügen, ohne dass jemand ihnen auf die Schliche kommt? Dieser ganze Schwindel, auf den andere hereinfallen, ohne jemals Verdacht zu schöpfen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nicht immer, Bernie. Der Trick besteht darin, dass der

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