Kalter Schmerz
Westminster kam.«
Ich sah auf Mark hinab, doch er hielt den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Er hatte die Knie vor die Brust gezogen und glasige Augen.
»Hey, ist alles in Ordnung?«
»Das ist so ein Schwachsinn.«
»Kann ich den Ton anstellen?«
Er zuckte mit den Schultern.
Ich setzte mich zu ihm und drückte auf den Stummschalter. Ich las regelmäßig Zeitung, versuchte immer, trotz der Statistiken und der sinnlosen Stimmungsmache so viel wie möglich zu verstehen, doch ich hing mich lange nicht so rein wie Mark.
»Die reden von Respekt! Diese verdammten Spinner.« Er schnaufte, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich war heute dabei, ein paar Stunden.«
»Wozu?«
»Ach, ein kleiner Dienst an der Gemeinschaft tut niemandem weh.« Er sah zu mir hinüber. »Gibt eine Menge Gruppen, die solche Situationen ausnutzen, Neonazis und solche Leute. Ein paar hatten so ein Mädel eingekesselt und sie umgestoßen, die feigen Wichser, da hab ich das Mädel zusammen mit einem anderen Typen weggebracht. Der andere Typ war offenbar der irrigen Ansicht, die Polizei sei unser Freund und Helfer, deshalb rief er um Hilfe, aber so ein junger Bulle grinste nur und sagte: ›Tja, ihr seid doch alle für die Meinungsfreiheit.‹«
Als ich wieder zum Fernseher hinüberschaute, wurde ein Bild aus der Vogelperspektive gezeigt. Die Menschenmenge war zu einer brodelnden schwarzen Masse geworden, einzelne Personen waren nur noch zu erkennen, wenn sie eine dieser neongelben Jacken trugen.
»Das ist so ein verdammter Schwachsinn, was die da abziehen. Trifft die armen Kinder am schlimmsten.«
»Sagt der Oxfordstudent mit dem Treuhandfonds«, erwiderte ich grinsend.
»Nur weil ich es leicht hatte, muss ich ja nicht unbedingt ein Arschloch sein.« Ein angedeutetes Lächeln. »Mir fehlt der Laden.«
Auf welchem Weg wir beide hier gelandet waren, war ein Thema, über das keiner von uns oft sprach, nicht dass ich das bedauerte. In den Jahren, die ich im Jugendknast gehockt hatte, war Mark an Kanälen entlanggeradelt, aber zumindest war mein Werdegang vorgezeichnet gewesen. Was Mark hierhergeführt hatte, hatte ich nie verstanden.
»Hast du den Whiskey mitgenommen?«
»Ja.« Ich ging zu den Koffern und suchte die in T-Shirts gewickelte Flasche. »Einen dreifachen?«
»Wir verfolgen gerade auf einem Flachbildschirm in Echtzeit, wie die Zukunft einer ganzen Generation vernichtet wird. Da kannst du einen drauf lassen, dass ich mir einen dreifachen genehmige.«
Ich schenkte zwei Gläser ein und setzte mich wieder neben ihn. Draußen hatte es angefangen zu regnen.
»Prost«, sagte Mark. »Weißt du, wenn das Ende der Welt kommt, falls wir das noch erleben, dann werden wir das genau so mitkriegen. Alle werden die Nachrichten einschalten und zusehen, wie die Pilzwolken auf uns zukommen … Kannst du dir das vorstellen? Wir werden zusehen, wie ein Reporter nach dem anderen ausfällt.«
Ich zog die Knie hoch und legte die Stirn darauf. »Das tut mir echt verdammt leid.«
»Stell dich nicht so an, das ist uns allen schon mal passiert.«
»Du musstest mich noch nie ausquartieren.«
Er überhörte die Bemerkung und gab mir einen Klaps aufs Bein. In den zehn Jahren, seit wir uns kannten, hatte ich mich noch nie für irgendwas entschuldigen dürfen. Ich kannte keinen anderen Menschen, der sich so selbstverständlich in seiner eigenen Welt bewegte, so als hätte er seinen Frieden gemacht mit den Geistern von Selbstverachtung, Zweifel und Tugend, von denen wir anderen getrieben wurden.
Über den Rand seines Glases hinweg schaute Mark mit einer sehnsüchtigen Brutalität im Blick auf den Fernseher, die Kamera schwenkte gerade über die Houses of Parliament.
Ich hätte gerne die ganzen Mädchen aus dem Kopf bekommen. Es waren einfach zu viele, Mädchen mit Narben an den Handgelenken, Frauen mit Tod in den Augen und Mädchen, die ohne Gesicht in Gassen lagen.
Ich überlegte, ob ich Mark von dem Papierstreifen mit dem mir vage bekannten Satz erzählen sollte, entschied mich aber fürs erste dagegen.
Doch wenn ein dringlich Los dich führt zu seinem Schatten …
Wikipedia verriet mir, dass es eine Zeile von Edgar Allan Poe war, dem Typen, der anscheinend die Kriminalliteratur erfunden hatte. Wer auch immer den Zettel hinterlassen hatte, war offenbar so ein Privatschul-Wichser. Ich war keiner, deshalb nahm ich mir vor, ihn auf altmodische Weise aufzuspüren.
»Gehst du mit mir zur Beerdigung von Emma Dyer?«, fragte ich und starrte
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