Kalter Süden
’ne echte Bombe sind«, sagte er. »Der hat Sie nicht gesehen, hä?«
»Tut mir leid, dass ich Sie enttäusche«, sagte Annika. »Ich fürchte, seine Meinung beruht auf Hörensagen.«
»Sie haben nicht zufällig ein Bier dabei oder so was? Die kontrollieren hier nicht so genau.«
Carita setzte sich ans Fußende des Bettes.
Eine Energiesparlampe an der Decke verbreitete ein bläuliches Licht und warf tiefe Schatten unter Augen und Nase des Mannes. Annika wich seinem Blick aus und sah sich in der Zelle um. Außer dem Bett gab es keine Sitzgelegenheiten. Eine der Lüftungsklappen neben der Tür quietschte leise. Es war kalt, aber nicht ganz so kalt wie draußen im Korridor. Sie blieb mit dem Rücken zur Tür stehen. Eine Stunde kam ihr plötzlich vor wie eine Ewigkeit.
»Ist Johan Ihr Rufname?«, fragte sie.
»Jocke«, korrigierte Jocke Zarco Martinez und glitt wieder zurück in den Schatten in der Ecke des Bettes. »Aber Sie schreiben doch nicht, wie ich heiße, oder? Ich will kein Foto in der Zeitung. Meine Mam is noch in Schweden, wissen Sie, und meine kleine Schwester auch.«
Annika betrachtete den Mann. Sie wusste, dass er fast sechsundzwanzig war, aber er kam ihr jünger vor. Er wirkte irgendwie rührend, ein bisschen naiv oder vielleicht ein wenig beschränkt.
»Wie soll ich Sie in dem Artikel nennen?«, fragte sie. »Sie können sich einen Namen ausdenken.«
Sein Gesicht leuchtete auf.
»Irgendeinen, egal welchen?«
Annika nickte.
»Stahlklöten!«, grölte er und wollte sich totlachen.
Sie seufzte insgeheim und wartete, bis der Anfall vorbei war.
»Wie wär’s mit … Andreas?«
Er hörte auf zu wiehern und tat, als müsse er kotzen.
»Kacke, Mann, voll uncool.«
Er dachte eine Weile nach.
»Bobby geht.«
»Bobby? Das ist doch kein schwedischer Name. Das ist Englisch.«
Er richtete sich beleidigt auf.
»Was soll der Scheiß … Sie haben doch gesagt, ich kann mir einen aussuchen!«
»Einen schwedischen Namen.«
Er ließ sich gegen die Wand sinken und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Fredrik«, sagte er.
»Fredrik«, stimmte Annika zu, wobei ihr ein Rätsel war, wieso Fredrik so viel cooler sein sollte als Andreas.
Jocke Zarco Martinez zog die Ärmel über die Hände und die Knie unters Kinn.
»Ist Ihnen eigentlich klar, wie lange ich hier schon sitze? Ich habe erzählt, dass ich den Laster nach Stockholm fahren sollte, damit ich bald einen Prozess kriege, aber die haben mich gelinkt, die Scheißkerle. Ich hab gesagt, dass ich nach Schweden ausgeliefert werden will, stattdessen verlegen sie mich jetzt ins Provinzgefängnis nach Alhaurín de la Torre. Ich kenn einen, der hat da drei Jahre gesessen, bis er vor Gericht kam. Sie müssen mir helfen, hier rauszukommen!«
»Darüber sollten Sie besser mit Ihrem Anwalt sprechen«, sagte Annika. »Was das spanische Rechtssystem angeht, bin ich machtlos. Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen, wie Sie hier gelandet sind, deshalb bin ich gekommen.«
»Ich will Garantien haben«, sagte der Mann.
»Was für Garantien?«
»Dass ich meine Strafe in Schweden absitzen kann.«
Annika schüttelte den Kopf.
»So etwas kann ich Ihnen nicht garantieren. Ich kann nicht mehr für Sie tun, als in der Zeitung über Sie zu schreiben, ich kann versuchen, Stimmung für Sie zu machen …«
Er strahlte und breitete die Arme aus.
»Ja!«, rief er. »Stimmung machen, das ist super. Damit sie mich nach Hause holen. Hier kann man echt nicht sitzen, Mann.«
Annika atmete auf und ließ sich auf dem Fußboden nieder. Ihr blieben noch fünfundfünfzig Minuten.
»Wollen wir ganz am Anfang anfangen?«, fragte sie.
Sie stellte allgemeine Fragen nach seiner Kindheit und Jugend. Die schien nicht wesentlich schlimmer verlaufen zu sein als bei anderen Leuten. Aufgewachsen im dritten Stock eines Betonblocks in Skärholmen, Eltern geschieden, ein älterer Bruder und eine kleine Schwester, Mutter und Schwester wohnten immer noch in dem Vorort. Er erzählte eifrig von seiner Schulzeit und der Bande, der er angehört hatte. Sie hatten sich im Stadtzentrum herumgetrieben und um die Wette geklaut – wer am meisten mitgehen ließ, war der Coolste. Die Sachen verscheuerten sie samstags vormittags auf dem Flohmarkt. Sein Bruder, der zehn Jahre älter war, hatte schon auf dem Gymnasium angefangen, mit Hasch zu dealen. Er hatte seinem kleinen Bruder auch den Einstieg in die Karriere als Drogenkurier ermöglicht, eine Laufbahn, die bis vor ein paar Monaten sehr
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