Kalter Süden
speicherte sie den Text auf der Festplatte, klickte das Dokument weg und schaute übers Meer.
Der Sund war schmaler geworden. Die Berge zogen so nahe am Schiff vorüber, dass es schien, als könnte man beide Kontinente gleichzeitig berühren, wenn man die Arme ausstreckte. Leider wollte Annikas Übelkeit immer noch nicht nachlassen.
Sie öffnete den begonnenen Artikel über Carita Halling Gonzales’ Vorgehensweise bei der Ausführung des Massenmordes in Nueva Andalucía. Das war eine ganz andere Art von Text, eine lange und detaillierte Schilderung der Ereignisse jener Nacht Anfang Januar.
Sie beschrieb, wie die Frau die Morde an der Familie Söderström und den zwei rumänischen Einbrechern geplant hatte. Wie sie das Gas und das Bier und das Morphin besorgt, sich den Code der Alarmanlage durch Diebstahl oder Nötigung beschafft und die erbärmlichen Schurken angeheuert hatte. Wie sie zu dritt die regennassen Straßen zur Villa hinauffuhren, sich das Naloxonderivat spritzten, die Gasflasche, einen Vorschlaghammer und ein großes Brecheisen mitnahmen und leise über das Poolgelände zur Rückseite des Hauses schlichen, wo sich das Aggregat der Klimaanlage befand …
Sie schilderte weiter, wie die Einbrecher einen Schlauch von der Frischluftzufuhr lösten und ihn an die Gasflasche anschlossen. Wie sie das Ventil aufdrehten und auf das Zischen lauschten, mit dem das Gas ins Haus drang, in die Schlafzimmer, in die Kinderzimmer … Dann warteten sie in der Dunkelheit. Der Gasalarm brach los. Nachttischlampen wurden angeschaltet. Waren die Schreie der sterbenden Kinder bis zur Klimaanlage auf der Rückseite des Hauses gedrungen, oder waren sie gar nicht mehr dazu gekommen, zu schreien?
Sie rief ihre alten Artikel auf und las nach.
Ein Effekt von Fentanyl war totale Lethargie, das heißt, der Betroffene wurde handlungsunfähig. Die Mutter und die Kinder hatten zu beiden Seiten der geschlossenen Tür gelegen, unfähig zu rufen oder die Tür zu öffnen, aber dennoch bei vollem Bewusstsein. Ihre Muskelkontrolle hatte nachgelassen und schließlich versagt. Sie waren innerhalb von wenigen Minuten gestorben.
Nein, Schreie waren wohl nicht zu hören gewesen.
Annika konzentrierte sich auf den Horizont, um ihre Übelkeit in den Griff zu bekommen. Sie bemerkte eine Veränderung des Meeres, es hatte jetzt eine ganz andere Farbe. Die Fähre hatte das Mittelmeer verlassen und befand sich nun auf dem Atlantik.
Sie stand auf und kaufte sich eine Flasche Mineralwasser, dann schrieb sie weiter an ihrem Text.
Die Einbrecher drangen durch die Terrassentür ins Haus ein. Abgesehen vom heulenden Gasalarm war alles still. Sie gingen zuerst hinauf zum Elternschlafzimmer, wo sich der Gasmelder befand, stiegen über die toten Kinder hinweg und schoben die Flügeltür zum Schlafzimmer auf. Vielleicht war sie schwer aufzubekommen, weil die Mutter dahinterlag. Vielleicht mussten sie die Tür mit Gewalt aufdrücken, die Frauenleiche mit den Füßen wegschieben. Dann stellten sie den Alarm ab, und damit war das Schlimmste vorbei. Jetzt hatten sie reichlich Zeit.
Zuerst raubten sie den Tresor. Die Männer schlugen die Wand auf, in die er eingemauert war, eine laute und zeitraubende Arbeit. Als sie fertig waren, halfen sie der Frau, den Safe zu ihrem Auto zu schleppen.
Dann fuhr die Frau weg, im Kofferraum den Tresor und vermutlich auch die Gasflasche, denn die war nirgends gefunden worden.
Sie stellte das Auto mit den Überresten des Tresors auf dem Flughafenparkplatz ab.
Die beiden Einbrecher räumten die gesamte Villa aus, Bilder und Teppiche und Schmuck, die reinste Weihnachtsbescherung.
Zu diesem Zeitpunkt wussten sie nicht, dass sie selbst nur noch vier Stunden zu leben hatten.
Annika speicherte den Text und schloss das Dokument.
Das Schiff steuerte südwärts und ließ Spanien und Europa hinter sich. Sie näherten sich rasch der marokkanischen Küste. Sie entdeckte kleine Fischerboote, erst ein paar, dann immer mehr, je näher sie der Küste kamen. Am Ende waren es mehrere Dutzend, die wie bunte Korken auf dem Wasser schaukelten.
Die Sonne hatte sich hinter Wolken versteckt, und das Meer war grau. Der Regen hing schwer über dem Rif-Gebirge. Annika konnte Häuser am Ufer erkennen, hoch und weiß, und Kräne.
Sie klappte den Laptop zu.
Sie bekam eine Begrüßungs- SMS von Meditel auf ihr Handy, der Mobilfunkprovider hieß sie in Marokko willkommen.
Sie verstaute ihre Sachen in der Tasche und ging an Deck. Der Wind zerrte an
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