Kalter Süden
googelte ein bisschen und fand eine Firma am Stureplan, die sich auf »Steuerrecht für internationale Wirtschaftsunternehmen« spezialisiert hatte. Dort erfuhr sie, warum gerade Gibraltar so praktisch für »internationale Investoren« war: Firmen in Gibraltar waren seit 1967 von der Steuer befreit, las sie. Als Spanien 1985 in die EU eintrat, setzte ein Run auf Gibraltar ein, denn die Gesetze waren wie maßgeschneidert für ausländische Eigentümer, die sich nicht in die Karten blicken lassen wollten.
Annika stand rastlos auf. Dass die sich trauten, immer so weiterzumachen! Sie holte sich noch einen Kaffee.
Dann rief sie Carita Halling Gonzales an. Als der munter in drei Sprachen plappernde Anrufbeantworter ansprang, fragte Annika, ob sich Carita für den Rest der Woche als Dolmetscherin zur Verfügung stellen könne.
Als Nächstes druckte sie Karten der Costa del Sol aus, machte einen virtuellen Rundgang durch den Palacio de Ferias y Congresos de Málaga , die Kongresshalle, in der die Pressekonferenz stattfinden sollte, und buchte zwei Zimmer auf www.hotelpyr.com (laut hotelguide.com das billigste Hotel an der Sonnenküste).
Anschließend überlegte sie, wo die Konferenzteilnehmer wohl wohnten und mit welcher Maschine sie fliegen würden.
Zum Schluss googelte sie nach Gasüberfällen und gab die Suchwörter nueva andalucía und soederstroem ein.
Die spanischen Zeitungen hatten nichts Neues über den Gasüberfall oder die ermordete Familie geschrieben.
Sie packte ihren Laptop ein und verließ die Redaktion zusammen mit Berit um Viertel nach fünf.
»Kennst du eigentlich diese Lotta?«, fragte Annika, als sie in der Eingangshalle aus dem Aufzug stiegen.
»Die Aushilfsfotografin? Blass, blond, Künstlertype.«
Annika stöhnte.
»Ich habe noch nicht mit ihr gearbeitet«, fügte Berit eilig hinzu. »Kann ja trotzdem sein, dass sie effektiv und nachrichtenorientiert ist.«
»Träum weiter«, sagte Annika.
Sie verabschiedeten sich vor dem Eingang. Berit ging nach rechts zum Parkhaus, Annika nach links zur Bushaltestelle. Ihr Handy klingelte im selben Moment, als der Bus der Linie 1 am Bürgersteig hielt.
»Annika? Hallo, hier ist Julia.«
Julia Lindholm hatte sich angewöhnt, sich gelegentlich bei ihr zu melden.
Annika empfand eine seltsame Befriedigung darüber, es war, als würde sie auf diese Art einen Blick hinter die Kulissen der Realität werfen. Sie hatte Julia und Alexander noch ein zweites Mal im Heim am Lejondalssjön besucht, und einmal waren sie und Julia zusammen im Kino gewesen und hatten sich La vie en rose angesehen, den Film über Edith Piaf. Mittlerweile waren sie auch per du.
»Hallo«, sagte Annika und gab sich Mühe, fröhlich zu klingen. Sie stieg in den Bus und zeigte ihre Monatskarte vor. »Wie geht’s?«
»Ach, ganz gut. Alexander und ich sind in der Stadt und bummeln ein wenig. Wir waren auf Söder und haben nach der Wohnung gesehen. Meine Mutter hat alles so hübsch hergerichtet, überall Blumen, Begonien und Usambaraveilchen. Jetzt wollen wir Kaffee trinken gehen. Hast du Lust, mitzukommen?«
Der Bus fuhr mit einem Ruck an, und Annika musste sich an einem älteren Herrn festhalten, um nicht zu fallen.
Sie entschuldigte sich, sah sich nach einem Sitzplatz um und begegnete reihenweise den gleichgültigen Blicken grauer Menschen. Zu Hause erwarteten sie eine minimalistische Küche mit angetrockneten Käsetoasts und ungemachte Betten. Zu essen hatte sie auch nichts eingekauft, da sie ja verreisen wollte.
»Gern«, sagte sie. »Wo seid ihr jetzt?«
»Am Hauptbahnhof. Wir sind hier in einer Stunde mit Henrietta verabredet. Treffen wir uns im Kafferepet?«
Alexander war gewachsen. Er war größer und kräftiger geworden, und sein Gesicht wirkte irgendwie dunkler, vielleicht, weil man ihm die blonden Locken geschnitten hatte.
»Hallo«, begrüßte Annika den Jungen und beugte sich zu ihm hinunter. »Ich bin Annika, weißt du noch? Du hast ja ein tolles Auto. Kann das auf dem Fußboden fahren?«
Der Junge wandte sich ab und verbarg das Auto, das er im Arm hielt, hinter Julias Bein.
»Ihr fahrt also wieder in die Stadt«, sagte Annika, richtete sich auf und umarmte Julia hastig.
»Sie haben uns erlaubt, einzukaufen und ins Museum zu gehen, und einmal waren wir im Kindertheater«, sagte Julia. »Sie finden, wir machen Fortschritte. Nächste Woche dürfen wir das Heim verlassen und in eine offene Wohngruppe ziehen, in ein Haus etwas näher am Ort. Was möchtest du essen?
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