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Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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der Nacht reinziehen konnte. Na ja, wenigstens waren die Badezimmer picobello gewesen. Dort hatten sie sich aufs Ohr gehaut nach ihrem Besuch bei den ungarischen Kollegen, die eisig höflich gewesen waren, aber keinen Zweifel daran gelassen hatten, dass sie auf ihre Fragen gut verzichten konnten. Auch wenn die Dolmetscherin, eine füllige, attraktive freundliche Frau, ihr Bestes getan hatte, um diesen Umstand zu verschleiern und eine verbindliche Atmosphäre zu schaffen. Immerhin hatten sie erfahren, dass ein Anton Lakatos, zehn Jahre alt höchstwahrscheinlich, die Familie hatte keine Papiere vorweisen können, am 19. März des vergangenen Jahres auf dem Parkplatz vor dem Shoppingcenter Süd angefahren worden und drei Stunden später im Krankenhaus verstorben war. Der Lenker des Wagens, ein Lieferant für das Restaurant des Shoppingcenters, hatte sofort angehalten und zu helfen versucht, aber die Kopfverletzungen des Kindes waren zu schwer gewesen. Der Lieferant, sein Beifahrer sowie zwei weitere Zeugen hatten übereinstimmend ausgesagt, dass der Junge direkt in den Wagen gelaufen war. Was er auf dem Parkplatz zu suchen gehabt hatte, konnte nicht ermittelt werden. Gegen den Lenker war kein Verfahren eingeleitet worden, auch die Familie des Opfers hatte keine Probleme gemacht. Von dem Verbrechen an einer Agota Lakatos habe man erfahren, aber keinen Zusammenhang mit dem tödlichen Unfall des Buben gesehen. Lakatos hießen viele hier, aber eine Agota Lakatos war gänzlich unbekannt. Ob sie für Ferdinand Oslip gearbeitet haben könnte? An dieser Stelle hatte sich der älteste der drei ungarischen Kollegen, die ihnen gegenübergesessen waren, sogar ein Lächeln gestattet. Kein freundliches allerdings. Und er, Pestallozzi, hätte ihm so gern gesagt, dass er wusste, wie idiotisch diese Frage war, aber dass er sie einfach stellen musste. Und es war gewesen, als ob der ungarische Kollege seine Gedanken gelesen hätte. Er war plötzlich nicht mehr zynisch gewesen, sondern nur mehr müde und resigniert. Wenn sie etwas über Herrn Oslip wissen wollen, dann sollten Sie Ihre Kollegen in Wien fragen, hatte die freundliche Dolmetscherin übersetzt. Herr Oslip verfügt über ausgezeichnete Kontakte und wird eine Auskunft zu jeder Frage geben können, die Sie ihm stellen. Und ein Alibi für jede Minute an jedem Tag, der hinter uns liegt. Dem war nicht allzu viel hinzuzufügen gewesen. Sie waren aufgestanden und hatten sich verabschiedet, die freundliche Dolmetscherin hatte sie noch hinausbegleitet. »Wir tun hier wirklich, was wir können«, hatte sie gesagt. »Aber die Probleme werden immer größer. So viele kommen, so viele junge Frauen wollen nur …« Sie hatte hilflos mit den Schultern gezuckt.
    Dann waren sie noch ein bisschen herumgefahren, hinaus an den Stadtrand, wo die Straßen immer ärmlicher wurden und schließlich nur mehr Baracken standen. Kinder und Hunde spielten im Morast, eine Frau hängte Wäsche auf, Männer waren keine zu sehen. Dann waren sie ins Motel gefahren und hatten irgendwie die Nacht überstanden, sogar der Leo hatte urschlecht geschlafen, wie er am nächsten Tag beim Frühstück mit höllisch scharfer Wurst und Spiegeleiern berichtet hatte. Und jetzt waren sie zurück, und er ließ den Leo schuften und tat selbst nichts anderes, als Vermeidungsstrategien anzuwenden und bis zur Perfektion zu verfeinern. Wenn er den Woratschek nur von Weitem sah, bog er schon ins Stiegenhaus ab oder schneite zum verdutzten Habringer hinein. Wenn das Handy klingelte oder vibrierte, checkte er angespannt die Nummer. Und wenn es die Henriette war, dann ließ er es klingeln, wegdrücken wäre einfach zu unhöflich gewesen, und schwor sich, dass er in der nächsten halben Stunde zurückrufen würde. Aber immer kam ihm etwas dazwischen, er musste etwas im Internet recherchieren oder sich die Hände waschen oder endlich einmal seine Schreibtischladen nach dem verlegten USB-Stick durchsuchen. Vermeidungsstrategien eben, angeblich gab es sogar schon eine ganze Latte an Literatur zu dem Thema. Pestallozzi seufzte und starrte zum Fenster hinaus. Das Handy klingelte, er zuckte zusammen und griff danach. Er würde einfach den Anruf entgegennehmen, ohne vorher aufs Display zu schauen. Dann sollte ein gütiger Gott entscheiden, oder wer auch immer. »Pestallozzi!«
    »Artur?« Ihre Stimme klang so atemlos, als ob sie gerannt wäre, beinahe hätte er sie nicht erkannt. »Es tut mir leid, wenn ich dich störe, entschuldige bitte.«

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