Kaltes Blut
›Ich-hab’sja-immer-schon-gesagt‹-Geschwafel. Alles pure Verlogenheit. Ich halte mich da raus. Ich habe es ihm nicht zugetraut, und dazu stehe ich auch heute noch.«
»Und warum nicht?«
»Ich habe nicht oft mit ihm gesprochen, er hat sehr zurückgezogen gearbeitet und auch gelebt, aber die wenigen Male, die ich mit ihm sprach, war er jedes Mal sehr freundlich und hilfsbereit. Und sollten Sie Geschichten hören von wegen, er hätte damals ständig um Selina herumscharwenzelt, dann ist das dummes Gerede.«
»Aber das hat Ihre Frau gesagt.«
»Meine Frau ist noch jung und lässt sich leicht beeinflussen von der Meinung anderer. Und es waren andere, die das damals behauptet haben, Emily hat sich dieser Meinung einfach angeschlossen.«
»Hatte er Freunde?«
»Keine Ahnung, da müssten Sie schon warten, bis meine Frau kommt, sie kann Ihnen mehr über ihn sagen.«
»Herr Hellmer und ich ziehen in Betracht, dass der Täter im Dunstkreis des Reitclubs zu suchen ist. Gibt es dort jemanden, zu dem Mischner engeren Kontakt hatte oder gehabt haben könnte?«
Gerber überlegte, trank einen Schluck von seinem Wasser und behielt das Glas in der Hand. »Nein, spontan fällt mir niemand ein. Auszuschließen ist es aber nicht. Wie gesagt, er war sehr introvertiert.«
»Wären Sie so freundlich, mir etwas über den Reiterhof zu erzählen? Über die Menschen dort und …«
»Was genau interessiert Sie? Um was für eine Spezies von Menschen es sich handelt, die einen Großteil ihres Lebens mit Pferden verbringt?« Gerber hatte ein leicht ironisches Lächeln auf den Lippen.
»Das weniger. Sie haben doch Freunde oder Bekannte dort …«
»Klar. Soll ich sie Ihnen alle aufzählen?«
»Nein, nur die, von denen Sie denken, dass ich vielleicht etwas über sie wissen sollte.«
»Ich verstehe. Also, da wären Werner und Helena Malkow. Sie ist Voltigiertrainerin und verbringt in der Tat einen sehr großen Teil ihres Lebens mit Pferden, er ist Chemiker bei Aventis, aber fragen Sie mich nicht, was er dort genau macht. Wir sind seit sechzehn Jahren befreundet, im Prinzip seit ich mit Emily zusammen bin. Sie haben einen Sohn, Thomas, der allerdings große Probleme hat. Hochintelligent, doch voller aufgestauter Aggressionen …«
»Inwiefern aufgestaute Aggressionen?« Julia Durant wurde hellhörig und beugte sich nach vorn.
Gerber schüttelte nur den Kopf. »Kombinieren Sie nicht gleich in diese Richtung. Thomas ist ein Sonderling, er vergöttert seine Mutter und hegt eine tiefe Abneigung, wenn nicht sogar Hass gegen seinen Vater. Ich weiß es aus den Erzählungen seines Vaters, der sehr unglücklich darüber ist, vor allem, weil er ständig um die Liebe seines Sohnes buhlt. Aber Thomas schottet sich völlig von ihm ab. Das Problem ist, dass Helena die Liebe, die Thomas für sie empfindet, nicht erwidert. Und das bringt den Jungen natürlich in eine gewaltige emotionale Zwickmühle. Da ist einer, Werner, der seinem Sohn alles gibt und alles geben würde, aber der Sohn will es nicht, und da ist die Mutter, von der Thomas alles will, die ihm aber nichts gibt. So hart es klingt, für sie ist ein Pferd mehr wert als der eigene Sohn. Eine sehr unglückliche Konstellation, die letztendlich nur einem schadet, Thomas. Deshalb wohnt er auch nicht mehr zu Hause, sondern hat eine eigene Wohnung, ist aber trotzdem sehr oft bei seinen Eltern, im Prinzip schläft er nur nicht mehr dort.«
»Wie alt ist Thomas?«
»Neunzehn. Er hat gerade sein Abitur gemacht.«
»Ich werde mich mit ihm unterhalten …«
»Frau Durant, ganz ehrlich, Thomas mag zwar emotional völlig zerrissen sein, aber für einen Mord kommt er nicht in Frage.«
»Kennen Sie ihn denn so gut?«
Gerber seufzte auf. »Wie gut kennt man jemanden, der einem permanent aus dem Weg geht?! Als ob er wüsste, dass ich ihn längst durchschaut habe, macht er einen großen Bogen um mich. Sprechen Sie mit ihm, ich bin gespannt, was dabei herauskommt.«
»Und wen hätten Sie mir noch zu bieten?«
»Achim und Sonja Kaufmann. Achim ist Klimaforscher an einem internationalen Institut, und Sonja ist Tierärztin. Sie genießt in Reiterkreisen eine enorme Reputation, zu ihr kommen die Halter mit ihren kranken Pferden zum Teil sogar aus dem Ausland. Man nennt sie auch die Pferdeflüsterin, nach dem berühmten Buch. Achim ist manchmal etwas impulsiv, aber ansonsten die Hilfsbereitschaft und Gutmütigkeit in Person. Sonja ist eher still und zurückhaltend. Falls Sie’s noch nicht wissen, Achim
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