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Kaltes Blut

Kaltes Blut

Titel: Kaltes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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eben nicht bekannt«, sagte Gerber, »aber ich werde mich trotzdem hüten, das den andern auf die Nase zu binden. Schauen Sie, wenn ich von skurril spreche, dann meine ich damit Leute, die zum Beispiel jeden Tag, wirklich jeden Tag, die Fenster putzen, die nach dem Mähen ihren Rasen saugen, und der Tagesablauf ist beinahe generalstabsmäßig durchorganisiert. Oder als gegenüber eine Familie mit einem behinderten Kind vor einigen Jahren eingezogen ist, wollte man sogar eine Unterschriftenaktionmachen, um zu verhindern, dass diese Familie in diese ehrenwerte Gegend zieht. Ich musste den Leuten klar machen, dass ein behindertes Kind nicht die Seuche hat. Direkt gegenüber gibt es einen wunderschönen Silberahorn, ich kann Ihnen den Baum zeigen, aber fast alle in der unmittelbaren Umgebung regen sich fürchterlich darüber auf, wenn der Herbst kommt und er die Blätter fallen lässt. Er würde die Gegend verschandeln, sagen sie und meinen damit, man sollte ihn am besten fällen. Dabei gibt es in dieser Gegend kaum etwas Schöneres als diesen Baum. Man gibt sich weltoffen und meint, diese Weltoffenheit mit einem dicken Bankkonto demonstrieren zu müssen. Aber von Weltoffenheit ist hier kaum etwas zu spüren. Hier verbarrikadiert man sich lieber hinter übermannshohen Hecken und Zäunen, na ja … Ich kann Ihnen aber auch sagen, dass Okriftel eine sehr hohe Zahl an Alkoholabhängigen hat, nur, es wird totgeschwiegen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Manche von ihnen fahren schon morgens um halb sechs oder sechs, wenn die ersten Trinkhallen aufmachen, mit ihren dicken Schlitten vor und decken sich erst mal mit Schnaps ein. Stellen Sie sich das mal vor, es gibt wirklich einige, darunter auch Patienten von mir, die sich in einer Art Dauersuff befinden und trotzdem mit dem Auto fahren. Die meisten Ehefrauen kennen das Problem ihrer Männer, aber man schweigt und nimmt in Kauf, dass eventuell eines Tages ein Kind von einem dieser Besoffenen totgefahren wird. Ich weiß nicht, ob eine schützende Hand über Okriftel liegt, doch wir hatten bisher das unverschämte Glück, dass so etwas noch nicht passiert ist. Aber über solche Dinge wird nicht gesprochen, zumindest nicht offiziell. Hinter vorgehaltener Hand wird natürlich wie in der tiefsten Provinz getratscht.
    Doch ich will jetzt nicht alles niedermachen, das wäre unfair. Ich habe viele Patienten, die sehr nett und liebenswürdig sind. Aber sie sind es mir gegenüber und auch denen gegenüber, die sie gut kennen, einem Fremden gehen sie erst mal aus dem Weg.
    Um es auf den Punkt zu bringen, beide Siedlungen sind sehr gepflegt,aber hinter den vier Wänden spielt sich so manches Drama ab. Ich weiß von Misshandlungen, wo reiche Männer ihre Frauen regelmäßig verprügeln, ich weiß auch von mehreren Fällen von Kindesmissbrauch, das Problem ist nur, ich weiß es vom Hörensagen. Eine Frau kam zum Beispiel kürzlich zu mir und hat mir erzählt, dass sie das Gefühl hat, ihre Nichte würde missbraucht, aber ich solle um Himmels willen nichts unternehmen. Was soll ich also tun? Ich kann mir ja kein persönliches Bild davon machen, ich kann nicht zu den Eltern gehen und sagen, mir ist zu Ohren gekommen, Ihre Tochter wird missbraucht. Mir tun nur die Kinder so unendlich Leid. Ein anderes Beispiel: Ein junger Mann, der mit seiner Mutter und deren Schwester in einem Haus lebt und sehr kontaktscheu ist, fährt regelmäßig dreimal in der Woche nach Frankfurt ins Bordell, weil er keinen Anschluss findet und seine Mutter keine Freundin duldet. Dieser Mann wurde vor einigen Jahren wegen sexueller Belästigung Minderjähriger angeklagt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.«
    »Wie heißt der Mann?«
    »Gebauer, Rainer. Er zählt auch zu meinen Patienten.«
    »Würden Sie ihm zutrauen …«
    Gerber winkte gleich ab. »Sie stellen immer wieder dieselbe Frage. Nein. Keinem hier, so seltsam sich manche auch benehmen mögen, traue ich einen Mord zu. Und das mit der sexuellen Belästigung war für meine Begriffe eine abgekartete Sache. Gebauer hat immer bestritten, jemanden sexuell belästigt zu haben. Er hat sogar vor Gericht zugegeben, regelmäßig ins Bordell zu gehen, aber nehmen Sie die Aussagen von drei elf- und zwölfjährigen Mädchen, dazu kommen die Eltern, die einen enormen Druck ausüben, und schon ist der Mann fällig. Und das nur, weil er ein Außenseiter ist, ein einfacher Arbeiter, wie sein Vater es war. Hätte er wenigstens eine eigene Werkstatt, er wäre

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