Kaltes Blut
nie den passenden Mann dafür. Und vorgestern habe ich meinen Freund rausgeschmissen, und gestern habe ich erfahren, dass er seit über einem halben Jahr schon eine andere hat. Das bringt wohl mein Beruf mit sich.«
»Nein«, sagte Gerber energisch und mit ernstem Blick, »das hat mit Ihrem Beruf überhaupt nichts zu tun, Frau Durant. Es ist eine Frage der inneren Einstellung. Sie sind eine sehr attraktive Frau, wenn ich das sagen darf, und die Männer müssten Ihnen eigentlich zu Füßen liegen, nein, falsch, die Männer liegen Ihnen zu Füßen. Aber Sie lassen es nicht zu oder sehen es nicht, und zwar aus Angst, wieder enttäuscht zu werden. Jede Beziehung, die sie in den letzten zehn Jahren aufbauen wollten oder aufgebaut haben, stand auf tönernen Füßen. Solange Sie nicht Ihre Einstellung ändern, solange werden Sie nicht den Partner fürs Leben finden.«
»Woher wissen Sie das mit den letzten zehn Jahren?«, fragte sie verwundert.
»Sie haben mir Ihre Hände gezeigt. Die Hände sind wie ein Buch des Lebens, in ihnen steht alles geschrieben, was gewesen ist, man muss es nur lesen können. Aber es steht nicht drin, was in Zukunft sein wird, denn die Zukunft schreiben Sie erst noch.«
»Und wie soll ich wissen, was ich ändern muss?«, fragte sieseufzend. »Mein Vater sagt, ich müsse meine Einstellung ändern, Sie sagen es, aber keiner sagt mir, wie. Du meine Güte, bin ich jetzt die Patientin? Das wollte ich nicht …« Sie sprang auf und war im Begriff, ihre Tasche zu nehmen, doch Gerber hob beschwichtigend die Hand.
»Frau Durant, bitte setzen Sie sich wieder. Ein Vorschlag – erstellen Sie eine Liste. In der linken Spalte führen Sie alle Ihre positiven Eigenschaften auf, in der rechten die negativen. Und anschließend gehen Sie Punkt für Punkt durch und fragen sich, wie Sie die negativen Eigenschaften in positive umwandeln können. Und lesen Sie das Buch, jeweils ein Kapitel jeden Abend vor dem Zubettgehen. Die Kapitel sind maximal fünf Seiten lang, also auch nach einem anstrengenden Tag noch zu meistern. Und sollten Sie trotz allem nicht weiterkommen, ich biete Ihnen gerne meine Hilfe an, kostenlos, versteht sich.«
Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als Emily Gerber auf die Terrasse kam. Sie hatte ein hellbeiges, figurbetontes Sommerkleid und hellbraune Pumps an.
»Frau Durant«, sagte sie und reichte ihr die Hand, »was führt Sie zu uns? Sind Sie schon lange hier?«
»Nein. Ich habe mich nur kurz mit Ihrem Mann unterhalten. Eigentlich wollte ich zu Ihnen. Aber ich nehme an, Sie werden jetzt zu Mittag essen wollen. Ich komme wohl besser …«
»Bleiben Sie ruhig«, sagte Emily Gerber freundlich, »wir haben keine festen Essenszeiten. Möchten Sie mit mir allein sprechen, oder kann mein Mann dabei sein?«
»Ich habe nichts dagegen, wenn er dabei ist.«
»Ach was«, sagte er und stand auf, »ich wollte sowieso in mein Arbeitszimmer gehen, mir wird’s allmählich zu heiß hier draußen. Wie war der Gottesdienst?«
»Ich fand’s nicht schlecht«, meinte sie lachend. »Aber ich glaube, einigen hat es gar nicht gefallen, doch Christian ist ja immer für eine Überraschung gut.«
»Erzähl mir später davon. Ich lass euch jetzt allein.«
»Bevor du gehst, Sonja hat mich gefragt, ob Tobias heute bei uns essen darf. Du hast doch nichts dagegen?«
»Wieso sollte ich?«
Emily Gerber wartete, bis ihr Mann sein Manuskript vom Tisch genommen hatte und ins Haus gegangen war, bevor sie sich auf seinen Stuhl setzte, ihr Haar schüttelte und einmal mit beiden Händen durchfuhr. »Bitte, ich stehe Ihnen zur Verfügung.«
»Sie haben ja erfahren, was mit Herrn Mischner passiert ist. Gestern hatten Sie die Vermutung, er könnte Selinas Mörder sein, und jetzt ist er plötzlich selbst zum Opfer geworden. Bedauern Sie es?«
»Ich gebe zu, ich hatte ihn in Verdacht. Und ob ich es bedauere, dass er umgebracht wurde … Keine Ahnung, wirklich.«
»Sie kannten Mischner vom Zeitpunkt seiner Einstellung bis zu dem Vorfall, der ihn letztlich ins Gefängnis gebracht hat. Hatte er damals Freunde?«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Hatte Herr Mischner in der Zeit, wo er bei Ihnen als Pferdepfleger gearbeitet hat, einen oder mehrere Freunde?«
»Nein. Er war ein Einzelgänger. Ab und zu ging er in die Kneipe, mal fuhr er auch am Abend weg, wohin, kann ich nicht sagen, aber Freunde hatte er bei uns keine. Das ist auch kein Wunder, denn so albern es klingt, aber ein Stallbursche steht in der Hierarchie ziemlich weit
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