Kaltes Blut
relativ ruhig gewesen, so ruhig jedenfalls, dass die Polizei auf die Hilfe eines versierten Profilers verzichten konnte. Der letzte große Fall, den sie zusammen bearbeitet hatten, lag eine Weile zurück, und Richter hatte damals ganze Arbeit geleistet. Sie gingen in sein Büro, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den sonnenüberfluteten Garten mit dem Swimmingpool hatte. Der Rasen schien gerade erst gemäht worden zu sein, die Blumen standen in voller Pracht, genau wie die Büsche und Sträucher, der Bergahorn, die zwei Birken und zwei Erlen und die akribisch geschnittene, etwa drei Meter hohe undurchdringliche Hecke am Rand des weitläufigen Grundstücks.
Richter setzte sich hinter seinen wuchtigen alten Schreibtisch, der bis auf das Telefon, einen Füller und einen Kugelschreiber sowie einen Block leer war, und wies auf zwei Stühle. Er lehnte sich zurück und sah Durant an. Er hatte volles graues Haar, das wie immer gut frisiert war, überhaupt hatte er sich seit dem letzten Zusammentreffen kaum verändert, höchstens, dass er etwas mehr Elan zu haben schien, was womöglich mit der kürzlich ausgesprochenen Scheidung von seiner Frau Susanne zusammenhing, immerhin schon seine vierte Ehe, die in die Brüche gegangen war. Aber er hatte längst eine Neue, eine ehemalige Patientin, die zwar verheiratet war und sich nicht von ihrem Mann trennen wollte, zumindest noch nicht, doch sie trafen sich wenigstens zweimal in der Woche, und für Richter war sie die einzige Frau, die er wirklich liebte und von der er hoffte, sie würde eines Tages den Entschluss fassen, endgültig an seiner Seite zu leben, in seinem Haus, in seinem Bett, mit ihr abends einschlafen und morgens aufwachen. Eine Frau, mit der er sich über Dinge unterhalten konnte, für die seine anderen Frauen entweder kein Verständnis hatten oder ihnen einfach die Lust fehlte, sich mit Themen auseinander zu setzen, die ihnen in ihrer Oberflächlichkeit zu lästig waren.
Richter war Professor für Psychologie, genoss eine weltweite Reputation, verfasste regelmäßig Artikel für wissenschaftliche Zeitungen und Magazine, hielt Seminare ab und hatte im Laufe der letzten Jahre Therapiemethoden entwickelt, die in Fachkreisen zwar umstritten waren, die aber von vielen, vor allem jüngeren Therapeuten immer häufiger angewandt wurden. Für manche war er ein Psychologiegott, doch wer ihn näher kannte, wusste, dass Richter lediglich über eine weit über dem Durchschnitt liegende Menschenkenntnis verfügte. Doch was ihn besonders auszeichnete, war seine intuitive Begabung, Dinge zu erfassen und auch zu erahnen, die andern verborgen blieben.
»Sie haben es ja gestern richtig spannend gemacht«, sagte er zu Durant. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Hellmer legte die Akten auf den Tisch. »Hier drin steht alles,was wir im Augenblick an Informationen haben. Es geht um den Mord an einer Fünfzehnjährigen. Wir gehen davon aus, dass es sich um einen Ritualmord handelt und der Täter erneut zuschlagen könnte. Wir brauchen ein Profil, und zwar so schnell wie möglich.«
»So schnell wie möglich? Was verstehen Sie darunter?«
»Sagen Sie mir, wie schnell Sie es schaffen können.«
Richter nahm wortlos die Akten, überflog sie, bevor er sich den Fotos zuwandte. Er betrachtete sie eingehend, als würde er sich in diesem Moment an den Tatort begeben, sehen, wie das Mädchen umgebracht wurde und wie ihr Mörder sein Werk vollendete. Er schürzte ein paarmal die Lippen, nickte gedankenverloren und sagte schließlich nach einer Weile wie in Trance: »Es handelt sich um einen Ritualmord. Und Sie haben wahrscheinlich Recht, er wird weitermachen. Die Erfahrung zeigt, dass solche Täter ein Konzept entwickelt haben, das sie zur Vollendung bringen möchten.« Er blickte auf und fuhr fort: »Könnte es sein, dass er schon einmal auffällig geworden ist?«
»Was meinen Sie damit?«
»Gibt es andere Fälle, wo zum Beispiel nicht so akribisch vorgegangen wurde, die Vorgehensweise aber dieser hier zumindest im Ansatz ähnelt?«
Durant sah Hellmer an und zuckte mit den Schultern. »Nein, uns ist kein derartiger Fall bekannt.«
»Hm, merkwürdig, denn hier war ein Perfektionist am Werk. Und jemand, der zum ersten Mal mordet, legt nicht eine solche Perfektion an den Tag, zumindest ist mir nichts Derartiges aus der Vergangenheit bekannt. Schauen Sie, er wusste schon lange vorher, was er will, das heißt, er hat den Mord genauestens geplant, praktisch wie auf dem Reißbrett. Ich halte
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