Kaltes Blut
näher?«, fragte Julia Durant, ohne den Menschen Beachtung zu schenken, während ein Streifenwagen langsam die Straße entlangfuhr. Es war noch immer recht warm, und die nächsten Tage würden sicher unerträglich werden, denn mit der Hitze würde auch die Luftfeuchtigkeit zunehmen, wie es in dem Kessel Rhein-Main-Gebiet fast jeden Sommer war. Obgleich sie vor nur etwas über einer Stunde geduscht hatte, warsie durchgeschwitzt und würde vor dem Zubettgehen noch einmal duschen.
»Wie gesagt, nur vom Sehen. Glaub mir, normalerweise siehst du nie so viele Leute auf der Straße. Im Sommer halten sie sich im Garten auf, ein paar, die sich näher kennen, veranstalten dann und wann eine Grillparty, aber ansonsten ist es, wie Nadine gesagt hat – sie verkriechen sich in ihren Rattenlöchern. An die ist kaum ranzukommen. Und wenn die hier alle wüssten, dass ich nur ein lausiger Bulle bin, du meine Güte, die würden sich auch fragen, wie ich es mir leisten kann, in diesem Haus zu wohnen. Egal, ist nicht mein Problem, was die denken. Aber spätestens jetzt wissen sie sowieso, dass ich ein Bulle bin.«
»Na und, hast du vielleicht was an unserem Beruf auszusetzen?«, fragte Julia Durant spöttisch. »Oder ist es dir peinlich, wenn deine Nachbarn das erfahren?«
»Blödsinn!«
»Na also, worüber machst du dir dann Gedanken? Besser ein Bulle als ein Krimineller. Und ihr habt wirklich keinen näheren Kontakt zu euren Nachbarn?«
»Nein. Die leben hier alle irgendwie nur für sich. Oder sie sind miteinander verwandt.«
»Komm, gib doch zu, du hast Hemmungen, dich zu outen.«
»Was soll das denn schon wieder heißen?«, fragte Hellmer pikiert.
»Denk drüber nach«, erwiderte sie nur kurz und drückte auf den Klingelknopf, der sich links vom Eisentor befand. Ein mittelgroßer, schlanker Mann mit einem leichten Bauchansatz und dunklem lichtem Haar kam mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck wenig später heraus, als würde er auf ein Wunder hoffen, dass Selina vielleicht nur ihre Schlüssel vergessen hatte und deshalb klingeln musste. Aber das Wunder trat nicht ein, er sah lediglich einen ihm bekannten Mann und eine unbekannte Frau.
»Ja, bitte?«, sagte er mit einer Miene, die deutlich seine Gefühlslage widerspiegelte. Stumpfe Augen, leicht nach vorn gebeugteSchultern, als trüge er eine schwere Last, unsichtbar und doch sichtbar durch seine Körperhaltung. Er sah erst die Kommissarin, dann Hellmer an, kniff für einen Moment die Augen zusammen, als würde er überlegen, woher er ihn kannte. Es schien ihm jedoch nicht einzufallen.
»Herr Kautz?«
»Ja?«, fragte er mit energieloser Stimme.
Julia Durant hielt ihm ihren Ausweis hin. »Durant, Kripo Frankfurt. Das ist mein Kollege Herr Hellmer, er wohnt dort vorne in dem Eckhaus. Sie sind sich wahrscheinlich schon einmal begegnet. Wir würden uns gerne mit Ihnen und Ihrer Frau unterhalten.«
»Natürlich«, sagte er an Hellmer gewandt, wobei seine Augen kurz aufblitzten. »Ich habe mich schon gefragt, woher mir Ihr Gesicht bekannt vorkommt. Aber Sie müssen entschuldigen, ich bin etwas durcheinander. Kommen Sie doch bitte rein.« Er öffnete das Tor. »Sie haben noch nichts von Selina gehört?« Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
»Nein, leider nicht.«
Sie gingen vom Flur mit dem Marmorboden und den in Grau- und Weißtönen gehaltenen Wänden in einen großen hellen Raum, von dem aus man auf den herrlichen Garten mit dem Pool schauen konnte. Eine sicher über zwei Meter hohe, dichte und wie mit dem Lineal geschnittene Hecke schützte das Anwesen vor unerwünschten Eindringlingen und Blicken. Ein paar Blumen auf dem Steingarten vor der Terrasse. Im rechtwinkligen Wohnzimmer ein Kamin aus Naturstein, der im Winter sicher heimelige Wärme spendete, auch hier der Fußboden aus Marmor, zwei kostbare Läufer und ein Teppich, eine maßgefertigte Bücherwand, die sich über zwei Wände erstreckte, eine hochwertige Musikanlage, aber kein Fernsehapparat. Einige Grünpflanzen auf der Fensterbank, ein undefinierbares exotisches palmenartiges Gewächs und ein Ficus Benjamini auf dem Boden. In die Decke eingelassene Halogenlampen, ein Deckenfluter. Eine dunkelblaue, aufwendig verarbeitete moderne Ledergarnitur, ein heller Marmortisch, überhauptschien Marmor das bevorzugte Material in diesem Haus zu sein, ein Ohrensessel neben dem Kamin. Im anderen Teil des Wohnzimmers, in den man über zwei Stufen gelangte und den die Kommissare erst einsehen konnten, als sie
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