Kaltes Blut
ein. Sie wartete bis dreiundzwanzig Uhr und tippte noch einmal beide Nummern von Helena ein. Erfolglos. Sie rief bei Sonja an, die aber auch nicht ans Telefon ging. Nachdem sie noch eine Viertelstunde gewartet hatte, tippte sie erneut Helenas Nummern ein, und als sie sich auch dann noch nicht meldete, nahm sie die Autoschlüssel vom Brett. Sie würde erst bei ihr zu Hause nachschauen, und solltesie sie dort nicht antreffen, weiter nach Kelkheim fahren, in Helenas Liebesnest, in dem sie bisher nur einmal gewesen war, für fünf Minuten. Ein Nest, in dem sie sich nie geborgen gefühlt hätte, weil es keine Wärme ausstrahlte.
Dienstag, 22.15 Uhr
Er hatte seinen Wagen in einer Nebenstraße geparkt, konnte das Haus jedoch gut einblicken. Seit zehn Minuten stand er hier. Er wusste, in Kürze würde die Tür aufgehen und eine oder zwei Frauen oder ein oder zwei Männer herauskommen. Sie verbrachte jeden Dienstagabend in diesem Haus, wenn sie sich mit ihren Liebhabern oder Liebhaberinnen traf. Er sah, wie das Licht in der Garage anging, und wartete noch einen Moment, bis eine Frau, die er nicht kannte, durch die Verbindungstür zu ihrem schwarzen Porsche trat, der in der Dreifachgarage stand. Der Motor brummte auf, sie fuhr rückwärts heraus. Er stieg aus, überquerte die schmale Straße, ohne von irgendjemandem gesehen zu werden, denn auch in dieser Gegend erlahmten mit Einbruch der Dunkelheit sämtliche außerhäuslichen Aktivitäten.
Das Licht wurde wieder ausgeschaltet. Das Garagentor stand offen, wie immer, so wie sie den Zugang zur Wohnung nie verschloss, nachdem ihre Liebhaber oder Lieberhaberinnen gegangen waren, denn sie fühlte sich sicher, schließlich war es eine sichere Gegend, und sie würde auch nur noch wenige Augenblicke bleiben. Sie hatte einen festen Zeitplan, und der besagte, nie später als um dreiundzwanzig Uhr zu Hause zu sein.
Er schlich durch die dunkle Garage, wo ihr silberfarbener Mercedes stand, zog sich die Handschuhe über, tränkte das Tuch mit reichlich Chloroform und stellte die Flasche auf den Boden. Er würde sie nachher wieder mitnehmen. Er drückte vorsichtig die Klinke herunter, die Tür ließ sich öffnen. So lautlos er die Tür aufgemachthatte, so lautlos schloss er sie wieder. Der tiefe Teppichboden verschluckte jedes Geräusch, er hörte sie hantieren, das Klappern von Gläsern, die sie noch schnell abspülte, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Sie war eine ordnungsliebende Frau, das musste er ihr zugestehen, alles in ihrem Leben war perfekt durchorganisiert. Es gab nur einen, der besser war im Organisieren, er selbst.
Er hielt das Tuch in der Hand, sie stand mit dem Rücken zu ihm, hörte ihn nicht kommen. Sie summte eine Melodie, die er kannte, nur der Titel fiel ihm nicht ein. Sie schien gut gelaunt zu sein, kein Wunder nach diesem Abend. Sie trug nur einen schwarzen Büstenhalter und einen schwarzen Slip. Die Rollläden waren heruntergelassen, man konnte ja nie wissen, ob da nicht doch jemand war, der einen beobachtete. Sie wollte gerade ein Glas in den Schrank zurückstellen, als ihr von hinten das Tuch mit kräftigem Druck gegen die Nase und den Mund gepresst wurde. Sie versuchte sich zu wehren, doch er war stärker, drückte sie mit Wucht an die Spüle, sie ließ das Glas fallen, es zersplitterte auf dem Boden, sie trat mit dem nackten linken Fuß hinein. Ihr Körper erschlaffte, er griff unter ihre Arme und schleifte sie ins Schlafzimmer und warf sie aufs Bett. Er zog ihr den BH und den Slip aus, nahm die Handschellen, die auf dem Nachtschrank lagen, ließ sie um ihre Hand- und Fußgelenke und die eisernen Bettpfosten schnappen, riss ein Stück von dem Tesaband ab und klebte es über ihren Mund. Dann setzte er sich in den Ledersessel neben dem Bett und wartete. Es würde noch einige Minuten dauern, bis sie aus ihrem Schlaf erwachte. Er war gespannt auf ihr Gesicht, wenn sie ihn sah.
Ein Blick auf die Uhr, zwei Minuten vor halb elf. Noch maximal fünf Minuten, bis sie die Augen öffnen und allmählich registrieren würde, was mit ihr geschehen war. Und dann würde ein Adrenalinschub nach dem andern durch sie hindurchschießen und sie wacher werden lassen als jemals zuvor. Die Angst würde ihr die Kehle zuschnüren, ihr Atem hastig gehen, Panik sich über den ganzen Körper ausbreiten. Die schrecklichsten Visionen würdenihr durch den Kopf gehen, vielleicht dachte sie, er würde sie foltern oder ihr bei lebendigem Leib die Haut abziehen. Er musste grinsen. Er hörte
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