Kaltes Blut
Kinder kümmern und dann schlafen.«
»Moment, bitte. Bevor wir gehen, würden wir gerne noch einen Blick in Selinas Zimmer werfen.«
»Warum?«
»Waren Sie heute schon in ihrem Zimmer?«, wollte Hellmer wissen und ließ die Frage von Helga Kautz unbeantwortet.
»Ja, heute Morgen und heute Nachmittag. Aber wenn Sie etwas Konkretes suchen«, sie schüttelte unmerklich den Kopf, »Sie werden nichts finden.«
»Haben Sie irgendetwas verändert?«
»Nein, ich habe nur die Tür aufgemacht und hineingeschaut. Das war alles.«
»Wir möchten uns trotzdem ein bisschen umsehen.«
»Bitte«, sagte Peter Kautz, »es ist im ersten Stock. Ich begleite Sie hoch.«
Er ging vor ihnen die Treppe hinauf. Die neunjährige Anna sah die Beamten traurig und neugierig zugleich an. Ein hübsches, sehr zartes Mädchen, dachte Durant, die Anna am liebsten in den Arm genommen hätte.
»Das ist unsere Tochter Anna.« Und an Anna gewandt: »Und das sind zwei Polizisten, die Selina suchen helfen.«
Sie erwiderte nichts darauf, machte nur auf dem Absatz kehrt und knallte die Tür hinter sich zu.
»Sie ist im Moment sehr verstört. Selina ist ihr großes Vorbild, in jeder Beziehung. Sie würde nie verkraften, wenn …«
Sie blieben einen Augenblick vor Selinas Tür stehen. Es schien, als würde Peter Kautz sich davor fürchten, die Klinke hinunterzudrücken, bis er sich schließlich überwand und die Tür aufmachte. »Gehen Sie ruhig rein, ich mag jetzt nicht. Außerdem sollte ich mich vielleicht besser um meine Frau kümmern. Sie gibt sich zwar im Moment sehr stark, in Wirklichkeit aber ist sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich habe große Angst, dass hier jetzt alles auseinander bricht, wenn Sie verstehen.«
»Wir kommen alleine zurecht«, sagte Julia Durant. »Es wird auch nicht lange dauern.«
»Sie werden schon wissen, wonach Sie suchen. Ich bin im Wohnzimmer, falls Sie mich brauchen.«
Julia Durant und Frank Hellmer betraten das Zimmer. An den Wänden zwei große Bilder, die Selina mit ihrem Pferd zeigten, ein Kalender mit Motiven von Monet, ein großes Poster mit einem Alleenweg und dem Spruch »Der Weg ist das Ziel«; Kiefernmöbel, ein Schrank, ein kleiner Sekretär mit vielen Schubladen, ein aufgeräumter Schreibtisch, ein Bett, ein Sessel, drei Kakteen auf der Fensterbank, das breite, nach Westen zeigende Fenster gekippt. Eine kleine Stereoanlage, ein paar CDs, Bücher auf einem Regal über dem Schreibtisch, ein Computer. Ein Halogenfluter und einvierstrahliges Deckenrondell. Eine Jeans auf dem gemachten Bett, eine Bluse über dem Stuhl. Das große, helle, aufgeräumte Zimmer eines jungen Mädchens.
»Und wonach suchen wir?«, fragte Hellmer, der zum Fenster ging und einen Blick auf die Straße warf.
»Keine Ahnung. Ich wollte einfach mal das Zimmer sehen. Manchmal gibt die Art, wie jemand sein Zimmer gestaltet, Aufschluss über die Persönlichkeit.«
»Und was für eine Persönlichkeit ist Selina deiner Meinung nach?«
»Sauber, ordentlich, pünktlich, ziemlich reif, eigentlich so, wie ihre Eltern sie geschildert haben. Und wie Eltern sich eine Tochter wünschen.«
»Wie kommst du auf pünktlich?«
»Der Tischkalender. Sie hat gestern Morgen das Blatt abgerissen. 10. Juli. Andere Mädchen in ihrem Alter haben nicht mal so’n Kalender, weil es zu anstrengend ist, jeden Tag ein Blatt abzureißen. Und die wenigsten halten eine solche Ordnung in ihrem Zimmer. Die Bücher in Reih und Glied, die CDs geordnet, kaum Staub, das Bett gemacht …«
»Das kann auch die Mutter oder eine Putzfrau gewesen sein«, wurde sie von Hellmer unterbrochen.
»Wir können sie ja fragen«, erwiderte Durant lakonisch, während sie eine Schreibtischschublade herauszog. Stifte, ein Tesa-Roller, ein paar leere Notizzettel. In der mittleren Schublade ein Stapel Schulhefte unterschiedlicher Farbe, auf denen jeweils das Fach und der Name stand. In der unteren Schublade wieder nur Hefte. »Guck mal im Sekretär nach. Mich würde interessieren, ob Selina Tagebuch führt.«
Nach einer halben Stunde, nachdem sie das gesamte Zimmer inspiziert hatten, ohne etwas zu finden, das ihnen hätte weiterhelfen können, gingen sie wieder nach unten. Peter Kautz hatte sich in den Garten gesetzt, von seiner Frau war nichts zu sehen.
»Herr Kautz«, sagte Julia Durant, »eine Frage: Wer räumt Selinas Zimmer auf? Macht sie das selbst oder Ihre Frau?«
»Selina macht das selbst. Wie schon gesagt, sie ist ein sehr ordentliches Mädchen. Sie hasst
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