Kaltes Blut
Unordnung. Alles muss seinen Platz haben.«
»Führt sie Tagebuch?«
Peter Kautz sah sie ratlos an. »Keine Ahnung. Aber meine Frau müsste das wissen. Warten Sie, ich hole sie. Nehmen Sie doch solange Platz.« Er deutete auf die Gartenstühle.
Durant und Hellmer schwiegen. Der am Tag noch recht heftige Wind hatte nachgelassen. Julia Durant hing ihren Gedanken nach, ging alle Möglichkeiten durch, was wohl mit Selina passiert sein könnte. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto stärker wurde das Gefühl, es hier mit einem Fall zu tun zu haben, der ihr noch lange Kopfzerbrechen bereiten würde.
»Sie wollten mich noch einmal sprechen«, sagte Helga Kautz, die wie aus dem Nichts plötzlich neben ihnen stand.
»Ja. Uns interessiert nur, ob Selina Tagebuch führt«, erwiderte Durant.
»Da fragen Sie mich zu viel. Gesehen habe ich noch keines bei ihr. Und wenn Sie nichts gefunden haben, dann kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen.«
»Ihr Mann sagt, dass Selina ihr Zimmer selbst aufräumt. Stimmt das?«
»Ja. Ich brauche sie allerdings nicht dazu zu zwingen, sie macht es freiwillig. Sie hasst Unordnung. Bei ihr muss alles seinen Platz haben.« Sie benutzte fast die gleichen Worte, wie eben schon ihr Mann. Ein eingespieltes Team, dachte Julia Durant.
»Haben Sie heute irgendetwas in dem Zimmer verändert?«
»Das haben Sie mich doch vorhin schon gefragt. Nein, es ist alles noch so wie gestern«, sagte Helga Kautz mit schwerer Stimme und glanzlosen Augen. »Entschuldigen Sie, aber ich habe eine Schlaftablette genommen, und sie fängt allmählich an zu wirken. Ich möchte mich hinlegen.«
»Wir sind auch schon weg. Und wenn es etwas Neues gibt, dann melden Sie sich bitte bei uns. Hier ist meine Karte, und Herr Hellmer wohnt ja nur ein paar Meter weiter. Auf Wiedersehen.«
»Selina wird nicht wiederkommen«, betonte Helga Kautz noch einmal mit traurigem Blick.
»Warten wir’s doch einfach ab. Manchmal gibt es ganz simple Erklärungen für so etwas«, entgegnete Julia Durant mit aufmunterndem Lächeln (auch wenn ihr gar nicht danach zumute war und sie sich elend fühlte, wenn sie lügen musste, denn eigentlich dachte sie wie Helga Kautz) und ging mit Hellmer nach draußen. Peter Kautz begleitete sie bis zum Tor.
»Sie geben uns doch sofort Bescheid, wenn Sie etwas hören?«, fragte er.
»Selbstverständlich. Das Gleiche erwarten wir allerdings auch von Ihnen. Ach ja, wir brauchen noch die Adresse von dem Reitclub.«
Peter Kautz diktierte, während Hellmer mitschrieb.
»Danke und auf Wiedersehen.« Eine gute Nacht wollte sie ihm nicht wünschen, denn sie wusste, es würde eine grausame, schlaflose Nacht werden, mit das Gehirn zermarternden Gedanken, mit ruhelosem Auf- und Abtigern in der Wohnung, vielleicht mit Alkohol, um die Gedanken zu verscheuchen, doch auch der Alkohol würde seine Wirkung verfehlen wie bei fast allen, die es in derartigen Situationen damit schon versucht hatten. Selbst die schwersten vom Arzt gespritzten Beruhigungsmittel erzielten meist nur eine oberflächliche Wirkung, weil der Geist sich weigerte, den Körper einschlafen zu lassen, weil sich in solchen Momenten zeigte, wie stark der menschliche Geist sein konnte. Solange die Gewissheit fehlte, was mit Selina passiert war, würde die Familie Kautz keine Ruhe finden. Und sollte das Mädchen tatsächlich tot sein und irgendwann gefunden werden, würde es noch Tage, vielleicht auch Wochen dauern, bis sie sich von dem ersten großen Schock erholt hatten, doch dann würde allmählich nach Wochen, Monaten oder erst Jahren der Alltag wieder einkehren, auch wenndieser Alltag anders aussehen würde als gestern noch. Aber ein Vergessen würde es in dieser Familie nie geben. Verdrängen ja, vergessen unmöglich.
Es war einer dieser Tage, an denen Julia Durant nicht bedauerte, keine Kinder bekommen zu haben, und ihre biologische Uhr tickte unaufhaltsam weiter. Sie hatte sich schon seit längerem damit abgefunden, nie eigene Kinder zu haben, auch wenn sie Kinder liebte, sie gerne um sich hatte, so wie Hellmers Tochter Stephanie oder Susanne Tomlins Kinder, wenn sie den Urlaub in Südfrankreich bei ihrer Freundin verbrachte. Aber irgendetwas hatte sie in den Jahren bei der Polizei hart werden lassen. Sie hatte lange Zeit keine feste Beziehung eingehen wollen und es darauf zurückgeführt, von ihrem Mann betrogen worden zu sein, doch mittlerweile gelangte sie immer mehr zu der Überzeugung, dass der Grund dafür in ihr selbst zu suchen
Weitere Kostenlose Bücher