Kaltes Blut
ganz klar den Grund genannt. Maren ist in ziemlich schlechte Gesellschaft geraten, wo sehr viel geraucht, getrunken und auch mit Drogen … Na ja, es war nicht mehr Selinas Welt, und sie wollte mit dieser Welt auch gar nicht erst Bekanntschaft machen. Also hat sie die Beziehung zu Maren allmählich einschlafen lassen. Und nach dem, was wir im Nachhinein von Maren gehört haben … Sie ist innerhalb sehr kurzer Zeit so abgesackt, dass sie schließlich in psychiatrische Behandlung musste. Aber das ist nicht unsere Sache.« Und nacheiner kurzen Pause, diesmal mit einem kaum merklichen, unergründlichen Lächeln auf den Lippen und auf einmal wieder in der Gegenwartsform: »Selina hat schon seit Jahren konkrete Vorstellungen von ihrer Zukunft. Sie will einmal Ärztin werden, sie möchte Menschen helfen. Und vor ein paar Tagen, ja, es war vorgestern, hat sie in einem Gespräch in der Küche zu mir gesagt, sie will einmal drei oder vier Kinder haben und sie genauso erziehen wie …« Helga Kautz lächelte verklärt, bevor sie weitersprach. »Ja, sie wollte ihre Kinder so erziehen, wie wir es bei unsern Kindern machen. Ich glaube, ein größeres Kompliment können Eltern von einer Tochter nicht bekommen. Ich habe mich sehr gefreut und sie in den Arm genommen, weil ich so gerührt war. Komischerweise hat Selina dabei geweint. Ich habe sie gefragt, ob das so traurig ist, aber sie hat bloß den Kopf geschüttelt und geantwortet, sie sei nur so froh, solche Eltern zu haben. Dabei sind wir gar keine besonderen Eltern, wir sind lediglich für unsere Kinder da, wenn sie uns brauchen.« Und nach einer kurzen Pause sagte sie mit gesenkter Stimme: »Und doch scheinen wir irgendetwas falsch gemacht zu haben.«
»Sie haben noch zwei weitere Kinder. Wie alt sind sie?«
»Elias ist achtzehn Monate und Anna neun.«
»Und was für ein Verhältnis hat Selina zu ihren Geschwistern?«
»Ein ausgezeichnetes. Natürlich gibt es ab und zu auch mal Reibereien, aber die sind sehr, sehr selten. Selina ist sehr ausgeglichen, und das mag zwar etwas pathetisch klingen, aber manchmal glaube ich, sie liebt alle Menschen. Und natürlich auch die Tiere.«
»Um noch einmal auf Dennis Kolb zurückzukommen. Hatte Ihre Tochter nach ihm wieder einen Freund oder …«
»Nein, sie wollte erst mal nichts mit einem Jungen anfangen. Freundschaft ja, aber eine engere Beziehung«, Helga Kautz schüttelte den Kopf, »nein. Dazu müssen Sie wissen, dass Selina und Dennis nie ein sexuelles Verhältnis hatten. Ich meine, sie hatten nie Intimverkehr. Das hat sie vor gar nicht allzu langer Zeit gesagt, als ich sie einmal dezent darauf angesprochen habe. Sie ist alsonoch Jungfrau. Sie fühlt sich einfach noch nicht reif genug dafür, wenn Sie verstehen. Und außerdem hat sie recht hohe Moralvorstellungen. Wissen Sie, es gibt in diesem Haus nur einen Fernseher, und ab und zu hat sie mittags nach der Schule einen von diesen Sendern angemacht, wo die widerlichen Talkshows laufen und die Menschen sich geradezu prostituieren. Sie schreien und pöbeln sich an und prahlen damit, wie viele Liebhaber oder Liebhaberinnen sie schon hatten, und es werden die ausgelacht, die zwanzig sind und bis zur Hochzeit warten wollen, bis … Ich habe mit Selina darüber gesprochen, und sie kann auch nicht verstehen, was in den Köpfen dieser Menschen vorgeht. Überhaupt scheint jegliches Moralverständnis verloren gegangen zu sein. Aber das tut ja jetzt nichts zur Sache …« Sie wollte noch etwas hinzufügen, als es klingelte. Peter Kautz sprang auf und rannte zur Tür. Ein älteres Ehepaar, das schräg gegenüber in einem kleinen Flachdachbungalow wohnte, stand draußen.
Sein barsches »Ja?« war bis ins Wohnzimmer zu hören.
»Herr Kautz, wir haben vorhin zufällig im Radio gehört, dass Selina verschwunden ist. Wir wollten nur fragen, ob sie schon wieder zu Hause ist«, sagte die mittelgroße grauhaarige Frau schüchtern. Er kannte die beiden Leute, höfliche, aber sehr zurückhaltende Menschen, und wusste bloß, dass der Mann sein Geld durch das Betreiben einer großen Gärtnerei verdient hatte und ihre Ehe wohl kinderlos geblieben war, denn er sah sie immer nur allein.
»Nein, Frau Schreiner, und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, die Polizei ist bei uns«, erwiderte er kurz angebunden.
»Wir sind auch nur gekommen, um zu sagen, dass wir Selina gestern Abend gesehen haben, und zwar kurz nach halb elf.«
Peter Kautz warf einen Blick auf die Straße mit den vielen Menschen. In ihm
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